Ettore Sottsass wurde, wie es sein Name so gar nicht sagt, in Innsbruck geboren, und zwar vor genau 100 Jahren. Fünf Jahre vor seinem Tod im Jahre 2007 erklärte er leicht grantelnd an seinem Indianerhaarzopf zupfend: "Das einzig Österreichische an mir ist die Art und Weise, wie ich Dinge angehe. Die Österreicher haben oft eine so saure Art. Sie sind sich einer Sache nie wirklich sicher. Ich bin mir auch nie sicher."

Sicher ist: Sottsass kam am 14. September 1917, ein gutes Jahr vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, zur Welt, einer Welt von gestern, die er in Sachen Gestaltung mit seinen unzähligen Objekten, Möbeln, Tankstellen, Einfamilienhäusern etc. wie wenig andere Gestalter in eine Welt von morgen führte. Seine Kunden hießen Siemens ebenso wie Apple, Vitra oder Artemide. Seine Objekte tragen Namen wie "Tahiti", "Murmansk" oder "Micky Maus". Dabei ist dieses Morgen längst nicht vorbei: Diverse Hersteller legen Sottsass' Entwürfe derzeit neu auf oder haben diese überhaupt nie aus dem Programm genommen. Darunter so klingende Namen wie Alessi, Zumtobel, B & B Italia, Emeco oder Kartell.

Ettore Sottsass im Jahre 1974. Dass er sich einer Sache nie ganz sicher war, bezeichnete der in Innsbruck Geborene als seine österreichischste Eigenschaft.
Fotos: Bruno Gecchelin / SIAE, 2017; Jürgen Hans; Alberto Fioravanti / Studio Ettore Sottsass; alle aus der Vitra-Schau "Ettore Sottsass – Rebell und Poet" in Weil am Rhein (bis 24. 9.)

Sottsass wurde mit seinen unkonventionellen Zugängen und Ideen zu einem Pionier des Radical Design, das Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre als eine der wichtigsten Avantgardebewegungen der Designgeschichte dem etablierten Funktionalismus weit mehr als nur ans Bein pinkelte und gerade in diesen Tagen wieder seine Fühler in die Welt des Designs ausstreckt.

Viele sprechen von Sottsass' Formensprache als Poesie. Und in der Tat war Sottsass, der an der Technischen Hochschule in Turin Architektur studierte, ein kleiner Dichterprinz, aber auch ein widerborstiger Formen-Punker. Man denke nur an seine Kult gewordene Reiseschreibmaschine "Valentine", die er 1969 neben vielem anderen für Olivetti entwarf. So sexy darf Schreibarbeit sein? Natürlich! David Bowie, selbst Sammler von Sottsass-Objekten, sagte über die knallrote Ikone: "Es war schier unmöglich, den Blick von ihr abzuwenden."

Revoluzzer

"Gutes Design ist wie die Möglichkeit, zum Mond zu fliegen. Nur wenige werden es jemals direkt tun können, aber das Bewusstsein dieser Möglichkeit hat das Leben von Millionen von Menschen verändert", sagte Sottsass. Wie oft er selbst während seines Schaffens auf den Design-Mond flog, ist schwer zu sagen, dass er aber dieses Bewusstsein wie nur wenig andere wachgerüttelt hat, ist heute unbestritten. Dabei beeinflusste der Mann mit dem Hängeschnauzbart nicht die Sichtweise auf die Dinge des Alltags, sondern auch die vieler Kollegen.

1980 gründete er mit Michele De Lucchi, Aldo Cibic, Martine Bedin und anderen die legendäre Memphis-Gruppe, die endgültig mit den Regeln des Funktionalismus brach und sich nicht davor scheute, Pyramiden, Kugeln, Kegel und Quader bunt und kariert in Form von Möbel-, Textil und Keramikentwürfen durcheinanderzuwürfeln. Der Bob-Dylan-Song "Stuck Inside of Mobile with the Memphis Blues Again" soll übrigens namensstiftend für die Truppe gewesen sein, die sich 1988 wieder auflöste. Dass auch eine alte ägyptische Herrscherstadt den Namen Memphis trug, dürfte Sottsass auch gepasst haben.

Schreibmaschine "Valentine" (mit Perry A. King 1969), Leuchte "Tahiti" (1981).
Fotos: Bruno Gecchelin / SIAE, 2017; Jürgen Hans; Alberto Fioravanti / Studio Ettore Sottsass; alle aus der Vitra-Schau "Ettore Sottsass – Rebell und Poet" in Weil am Rhein (bis 24. 9.)

"Wenn du die Funktion eines Objekts genau untersuchen willst, zerrinnt sie dir zwischen den Fingern, weil sie ein Teil des Lebens ist. Funktion bedeutet nicht eine Schraube mehr oder weniger. Funktion ist der Schnittpunkt zwischen Objekt und Leben", meinte Meister Sottsass und schlug damit Töne an, die auch heute in der geschniegelten Möbelwelt zwischen den großen Messen in Köln und Mailand auf immer mehr offene Ohren treffen.

Matteo Thun, ebenfalls Mitglied von Memphis, sagt: "Memphis hat nach wie vor einen hervorragenden Stellenwert im Ausloten ästhetischer Grenzwerte. Nach mehr als 30 Jahren Erfahrung und mit einer entsprechenden Distanz zu den Dingen kann ich beurteilen, dass Memphis-Möbel Energie und Lebensfreude versprühen."

Darin liegt auch der Grund, dass Memphis nicht in den Wunderkammern mancher Designausstellungen vor sich hin verstaubt, sondern mit der nötigen Distanz von Jahrzehnten den Blick aufklaren lässt. Memphis fungiert heute als Spiegelbild der Fluten von Trends, aber auch als rockig-poppiges, geistiges Gegenstück zum weitverbreiteten skandinavischen Minimalismus – Memphis als Manifest des Antifunktionalismus, das auch in der Do-it-yourself-Bewegung seine Fans findet.

Kommode "Kubirolo" (1966/67), Olivetti-Sessel "Synthesis" (1972).
Fotos: Bruno Gecchelin / SIAE, 2017; Jürgen Hans; Alberto Fioravanti / Studio Ettore Sottsass; alle aus der Vitra-Schau "Ettore Sottsass – Rebell und Poet" in Weil am Rhein (bis 24. 9.)

Freiheit des Denkens

Die Sehnsucht nach einer Formensprache wie jener von Sottsass, das Bedürfnis nach einem korsettfreien Design, das mit klaren Linien ebenso kann wie mit Verspieltheit und dem Mix von Materialien, wird auch deshalb spürbar stärker, weil dieser Zugang wie kaum ein anderer für eine Freiheit des Denkens, eine eigene Meinung sowie Autorenschaft und eben nicht nur für Design als Dienstleistung steht, die von Marketingabteilungen diktiert wird. Sottsass hat auf dieses Diktat gepfiffen, der Pfiff ist nicht verstummt.

Um noch einmal mit Matteo Thun zu sprechen: "Memphis war eine fantastische gymnastische Übung, eine Herausforderung, während der Nacht das zu testen, was man am Tag nicht machen konnte. Am Tag musste man schauen, dass man ein bisschen Geld verdiente, und in der Nacht haben wir versucht, uns an die Grenzen dessen heranzutasten, was die kulturelle und technische Machbarkeit eines Objekts zulässt. Es war eine schöne Zeit, weil sie aus einer totalen Frustration durch das Tagesgeschäft entstanden ist." Apropos Tagesgeschäft: Einer der ersten Kunden, der bei Memphis vorbeischaute, war Karl Lagerfeld.

Dass das Formenerbe von Ettore Sottsass wieder an unsere Wohnungstüren und an die Studiotüren jüngerer Designer klopft, zeigt, dass Sottsass mehr war als ein Revoluzzer längst vergangener Tage. Es zeigt, dass seine Definition von Design heute vielleicht gültiger ist als je zuvor, denn sie trägt zu einem großen Nebeneinander bei, das heute im Design bestehen darf: "Für mich ist Design eine Art und Weise, das Leben zu diskutieren, soziale Beziehungen, die Politik, das Essen und sogar das Design selbst." (Michael Hausenblas, RONDO, 14.9.2017)