Afrika, ausgebeutet und geknechtet von Unternehmen und Großmächten. Das ist das gängige Narrativ der Globalisierungskritik. Die Fundamente für diese Behauptung sind mitunter brüchig.

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Wer die Presse regelmäßig verfolgt, stellt fest, dass es einen regelrechten Hype um das Thema der Globalisierung gibt. Ob Trump, Brexit oder Macron – ständig wird die große Debatte befeuert, ob und inwiefern die Globalisierung zu weit gegangen ist oder noch nicht weit genug und ob die Politik sich jetzt in die eine oder andere Richtung bewegt.

Was jedoch alle, ob Befürworter oder Gegner der Globalisierung, zu einen scheint, ist ihre Annahme, dass sie genau wissen, wie es um die Globalisierung steht. Dabei unterliegen die meisten von uns jedoch Fehleinschätzungen. Aus unserer Sicht ist es daher an der Zeit, einen Schritt zurückzugehen und mit statistischen Fakten zwei gängigen Globalisierungsmythen entgegenzutreten.

Mythos 1: Die Welt ist sehr stark globalisiert.

Das scheint eine Grundannahme zu sein, sowohl auf der Seite der Befürworter als auch auf der Seite der Gegner der Globalisierung. Die langjährige Forschung von Pankaj Ghemawat, Professor an der IESE Business School in Barcelona, zeigt jedoch, dass viele Indikatoren der globalen Integration überraschend niedrige Werte aufweisen, weshalb in Fachkreisen von einem Zustand der "Semiglobalisierung" gesprochen wird.

Grenzüberschreitende Interaktionen und Verbindungen, wie zum Beispiel Personen-, Informations-, Kapital- und Handelsströme, haben zwar in den letzten Jahrzehnten zugenommen, aber nur drei Prozent aller Menschen leben außerhalb ihres Geburtslandes, nur 13 Prozent der größten Firmen weltweit (Fortune Global 500) werden von ausländischen CEOs geleitet, und nur zwei Prozent aller Studierenden weltweit sind an einer ausländischen Universität eingeschrieben.

Selbst auf Facebook sind nur 16 Prozent unserer Freunde international, und ausländische Direktinvestitionen machen im Schnitt nur sieben Prozent aller Bruttoinvestitionen aus (P. Ghemawat, "The Laws of Globalization and Business Applications", Cambridge University Press 2016).

Der internationale Anteil dieser grenzüberschreitenden Interaktionen ist also oft recht gering, und interessanterweise überschätzen wir häufig diesen Anteil. Ghemawat konnte diese Überschätzung anhand von Daten von tausenden Studierenden nachweisen. Wir konnten bei einer öffentlichen Vorlesung an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien zeigen, dass mehr als 80 Prozent der ca. 500 Teilnehmer den internationalen Anteil aller Studierenden und aller CEOs der größten Firmen weltweit deutlich überschätzen.

Auf gleiche Weise haben in England zwei unabhängige Studien vor dem Brexit gezeigt, dass die Bevölkerung den Anteil der Migranten der ersten Generation in der Bevölkerung deutlich überschätzt.

Mythos 2: Schwellenländer sind sehr stark unterentwickelt.

Trotz der weitverbreiteten Auffassung einer extrem globalisierten Welt unterschätzen wir den Entwicklungsstand von Schwellenländern teils deutlich. In einem WU-Projekt mit Studenten der Global Alliance in Management Education und mit Unterstützung der schwedischen Nichtregierungsorganisation Gapminder befragten wir Studierende der WU, der Technischen Universität Wien und des Juridikums zum Entwicklungsstand verschiedener Schwellenländer wie beispielsweise Pakistan, Brasilien und Indien.

Die knapp 1200 Antworten zeigten, dass die Studierenden nicht nur oft falsch liegen (der Prozentsatz der korrekten Antworten lag bei ca. 15 Prozent für elf Fragen), sondern dass sie den Entwicklungsstand massiv unterschätzen. So schätzten die Befragten die Lebenserwartung in Bangladesch (ca. 72 Jahre) mit nur 60 Jahren, die Mobilfunknetzabdeckung in Nigeria (ca. 99 Prozent) mit nur 83 Prozent und den Anteil des Dienstleistungssektors am Bruttoinlandsprodukt in Brasilien (ca. 71 Prozent) mit 44 Prozent deutlich schlechter ein.

Wir haben also in zweierlei Hinsicht eine verzerrte Wahrnehmung der Globalisierung. Diese erhöht unserer Meinung nach das Risiko von Fehlentscheidungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft.

Wahlen, politische Entscheidungen und auch Entscheidungen über Unternehmensstrategien sähen anders aus, wenn wir die Globalisierungsmythen nicht hätten. (Phillip Nell, Jan Schmitt, Benoit Decreton, 18.9.2017)