Wien – Der Mensch ist eine Art Tier, optimalerweise ein zivilisiertes und kultiviertes. In jedem Fall ist er aber ein Gewohnheitstier: Der Mensch schätzt, was er kennt. Das Klangforum Wien müht sich seit Jahrzehnten, Hörgewohnheiten zu erweitern. Peter Oswald hat die Geschicke des Ensembles für zeitgenössische Musik in den Jahren 1992 bis 1997 geleitet; sein Nachfolger als Intendant, Sven Hartberger, erinnerte zu Beginn des Klangforum-Konzerts an den im August verstorbenen Freund.

Im Grenzbereich unterwegs

Mit "grenz.wert" ist die aktuelle Abonnementreihe des Ensembles im Wiener Konzerthaus betitelt, das von Sylvain Cambreling geleitete Eröffnungskonzert widmete sich dem Grenzbereich "Gebrauchs-/Kunstmusik". In Arnold Schönbergs Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene (1929/30) tremolierten Bratsche und Cello Spannung herbei, die sich drohend verdichtete und katastrophisch kulminierte; danach erlebte die tremolierende es-Moll-Terz des Beginns eine kurze Wiedergeburt.

Spanische Landschaften sind in Michael Wolgensingers Film Metamorphose zu sehen, und spanische Anklänge fanden sich auch in Bernd Alois Zimmermanns Musik zu diesem Film (1954). Den ersten und fünften der sechs Werkteile prägten rhythmische Grundmuster, die von melodischen Linien überspannt wurden; dies und die crescendierende dynamische Struktur erinnerten an Ravels Bolero.

Wie klingt eine Windrichtung? Wenn man Mauricio Kagels akustischer Schilderung glauben mag, klingt der Südwesten (aus: Die Stücke der Windrose, 1992/93) vermischt-verwechselbar, also lebendig, melancholisch, gruselig und romantisch. Kagels Werk, das wenig überzeugend traditionelle Kompositionsmuster mit Experimentellem vermengt, ist weder Fisch noch Fleisch: die vegane Enttäuschung des Abends.

Kraftvoll, farbenprächtig und prägnant hingegen Unsuk Chins Gougalon (2009-2011). Die südkoreanische Komponistin erinnert sich hier an dörfliche Straßentheater ihrer Kindheit. Unter Cambrelings kundiger Leitung wurde etwa das sinnliche Lamento einer kahlen Sängerin (ein langsamer Walzer in g-Moll) oder eine grell-schräge Schilderung eines grinsenden Wahrsagers mit falschem Gebiss zu klingendem Leben erweckt: fantastisch vergnüglich! (Stefan Ender, 18.9.2017)