Petra Mandl: "Es ist ein Teil unserer Arbeit, mit dem Risiko leben zu müssen, dass wir nicht immer vor Ort sind und nicht alles voraussehen können."

Foto: ma11

Am Montag hat ein 18-jähriger Afghane gestanden, seine 14-jährige Schwester in Wien-Favoriten getötet zu haben. Zu den Hintergründen ermittelt derzeit die Polizei. Das Mädchen war unter Obhut der Magistratsabteilung 11, der Jugendwohlfahrtsbehörde der Stadt Wien. Über die Arbeit der Krisenzentren sprach DER STANDARD mit Petra Mandl, Pressesprecherin der MA 11.

STANDARD: Derzeit sind in den zwölf Krisenzentren Wiens circa 120 Kinder untergebracht. Wie ist der Ablauf, wenn ein Jugendlicher um Unterstützung in einer solchen Einrichtung bittet?

Mandl: Der Jugendliche oder das Kind meldet sich in einer Regionalstelle für soziale Arbeit und stellt sein Problem dar. Die Unterbringung im Krisenzentrum muss nicht immer das erste Mittel der Wahl sein. Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass es momentan keine andere Möglichkeit gibt, weil zum Beispiel eine Gefährdung gegeben ist, die wir nicht einschätzen können, dann wird der Jugendliche aufgenommen. Die Eltern werden verständigt, es folgen Gespräche im Krisenzentrum.

STANDARD: Was wird da konkret besprochen?

Mandl: Wir sprechen darüber, was zu dieser Krise geführt hat, und darüber, was den Jugendlichen belastet. Wir sehen uns die Sicht der Eltern an und sprechen darüber, ob sie Unterstützung brauchen. Es kann sein, dass dieser Prozess in wenigen Tagen abgeschlossen ist. Es kann aber auch sein, dass das einige Wochen in Anspruch in nimmt.

STANDARD: Wie lange dauert der Aufenthalt in einem Krisenzentrum längstens?

Mandl: Das Ziel ist, einen solchen Aufenthalt innerhalb von sechs Wochen zu beenden und eine Lösung zu finden. Diese Lösung kann sein, dass der Jugendliche wieder nach Hause geht, natürlich mit Unterstützung des Jugendamts, etwa in Form von Hausbesuchen durch unsere Sozialarbeiter. Möglicherweise werden weitere Experten zugeschaltet, zum Beispiel Psychologen. Oder es wird entschieden, dass das Kind nicht nach Hause kommt, dann wird es in einer Wohngemeinschaft untergebracht. Aber auch da ist der Kontakt mit den Eltern weiterhin möglich und erwünscht.

STANDARD: Zum Mord in Favoriten haben Sie gesagt, die Situation habe sich nicht so gefährlich dargestellt. Das Mädchen habe sich von der Familie eingeengt gefühlt, die große Schwester war ihr als Aufpasserin zur Seite gestellt. Begegnen Ihnen im Arbeitsalltag öfter solche Fälle?

Mandl: Wir zählen Gefährdungsmeldungen und unterscheiden nach Gewaltformen: psychisch, physisch, Vernachlässigung, sexuelle Gewalt. Wir zählen nicht einzelne Begründungen oder etwa, ob die Betroffenen einen Migrationshintergrund haben.

STANDARD: Das Mädchen hatte bereits letzten Sommer Kontakt mit Ihnen aufgenommen. Was war damals Ihre Erkenntnis über die Situation in der Familie?

Mandl: Damals gaben die Eltern die Zustimmung für die Unterbringung im Krisenzentrum. Sie waren bei den Gesprächen dabei. Das Mädchen hat schließlich selbst den Wunsch geäußert, wieder nach Hause zu kommen. Möglicherweise gab es eine Aussicht auf Veränderung. Vorige Woche wurde der Druck zu Hause wieder so groß, dass sie gesagt hat, sie hält es nicht aus.

STANDARD: Wie versuchen Sie bei den Eltern konkret eine Einstellungsänderung zu bewirken?

Mandl: Mit vielen Gesprächen, in denen wir auch Anwalt für die Kinder und Jugendlichen sind. Unsere Aufgabe ist auch, den Eltern die Situation der Kinder begreiflich zu machen.

STANDARD: Wie oft geschieht es, dass Betroffene in die Schule begleitet werden müssen?

Mandl: Zu Beginn, wenn Kinder bei uns untergebracht werden, gibt es immer eine Begleitung in die Schule, wo wir uns vorstellen. Wenn es um Schutz geht, wird man sich genau anschauen, in welcher Form und wie lange diese Begleitung nötig ist. Wenn es sehr dramatisch ist und die Angst sehr groß ist, erfolgt die Unterbringung außerhalb des Wohnumfelds. Es ist auch möglich, den Eltern den Aufenthaltsort nicht zu nennen.

STANDARD: Braucht es in Zukunft andere Gesetze oder Infrastrukturen, um solche Fälle zu verhindern? Oder lassen sich solche Taten nicht verhindern?

Mandl: In der sozialen Arbeit und insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe gibt es immer ein Restrisiko. Wir können nicht in die Menschen hineinschauen. Natürlich werden wir aufgrund dieses Falles unsere eigenen Abläufe evaluieren und schauen, was man in Zukunft anders machen kann. Es ist ein Teil unserer Arbeit, mit dem Risiko leben zu müssen, dass wir nicht immer vor Ort sind und nicht alles voraussehen können. (Katrin Burgstaller, 19.9.2017)