Seit 2012 steht ein Österreicher an der Spitze der Euroarbeitsgruppe, die alle wichtigen Entscheidungen der Währungsunion vorbereitet. Thomas Wieser bemängelt im Interview mit dem STANDARD, dass Österreich für die Bewältigung von Globalisierung und Digitalisierung nicht gut gerüstet sei. Vor allem bei Bildung und Forschung seien die Ergebnisse mäßig. Der Befund sei zwar seit 20 Jahren bekannt, Reformen allerdings schwer auszumachen. Auch mit der Bürokratie geht Wieser hart ins Gericht. Die oft geforderte Vertiefung der Eurozone erwartet der Spitzenbeamte auf absehbare Zeit nicht.

STANDARD: Mit der Konjunktur geht's in Europa stark aufwärts, das hilft bei der Konsolidierung der angespannten Staatshaushalte. Bewegen sich die Defizite ausreichend nach unten, oder werden strukturelle Probleme überdeckt?

Wieser: Der Hauptbeitrag zur Budgetkonsolidierung in den letzten Jahren waren die extremen Niedrigzinsen und die damit verbundene billige Refinanzierung der Haushalte. Wenn man sich den Primärhaushalt, der die Defizite um die Zinszahlungen bereinigt, ansieht, ergeben sich nur relativ geringe Konsolidierungseffekte. Das Problem ist, dass im Wesentlichen jene Staaten, die aufgrund ihrer Verschuldung viel mehr Gewicht auf die Budgetkonsolidierung legen müssten, es zu wenig tun. Die, die mehr für die Konjunkturbelebung tun könnten, machen das auch nur eingeschränkt. Der Policy-Mix in der Eurozone ist im Aggregat richtig, in der Zusammensetzung aber nicht. Im Klartext müssten die Italiener, Franzosen und Spanier deutlich mehr für die Budgetkonsolidierung tun, während Staaten wie Deutschland ein höheres Defizit anstatt der schwarzen Null anstreben sollten.

STANDARD: Wir haben komplexe Regelwerke samt Sanktionen zur wirtschaftspolitischen Koordinierung. Funktionieren sie auch?

Wieser: Wir haben in der EU und in der Eurozone nach wie vor ein hohes Maß an nationaler Autonomie und Souveränität, insbesondere im Bereich der Budgetpolitik. Daher wird sie von einem Regelwerk koordiniert. Dieses ist zwar verbindlich, aber in der politischen Realität nur sehr schwer pönalisierbar und auf Punkt und Beistrich umsetzbar. Daher stellt sich die Frage, ob eine bessere Koordination möglich ist, die auch demokratisch legitimiert ist. Das ist ein schwieriger Spagat. Er erfordert unweigerlich Verfassungsänderungen in den betroffenen Staaten. So weit sind wir auf kurze und mittlere Sicht sicher nicht.

STANDARD: Wie beurteilen Sie den österreichischen Staatshaushalt?

Wieser: In einer sehr kurzfristigen Betrachtung steht Österreich besser da als viele andere Euroländer. Außer Frage steht aber auch, dass der Schuldenstand deutlich zu hoch ist. Bei der nächsten Krise, die mit Sicherheit irgendwann kommt, werden die fiskalpolitischen Puffer nicht groß genug sein, um adäquat reagieren zu können. Außerdem geht es nicht nur um den Haushaltssaldo, sondern um die Zusammensetzung von Einnahmen und Ausgaben. Sind die geeignet, um den großen Herausforderungen tatsächlich begegnen zu können? Wesentlich sind dabei das Wachstumspotenzial und das Erzielen von Produktivitätsfortschritten, die über jenen unserer Handelspartner liegen. Das sind zu einem guten Teil mittel- und osteuropäische Länder, die in den letzten 15 Jahren astronomische Produktivitätsfortschritte erzielt haben. Wenn man sich auch noch die Entwicklungen in Asien ansieht, erkennt man, dass nur eine sehr produktive Volkswirtschaft in der Lage ist, den Lebensstandard ihrer Bürger zu garantieren.

STANDARD: Und wie steht Österreich diesbezüglich da?

Wieser: Österreich hat einen Mangel bei immateriellen Investitionen, wie bei der Bildung – quer durch alle Altersgruppen. Obwohl die Ausgaben für Bildung sehr hoch sind, sind die Ergebnisse nur mittelmäßig.

STANDARD: Und wie sieht es mit Wissenschaft und Forschung aus?

Wieser: Der Zustand an den österreichischen Universitäten ist bedauerlich. Die Hochschulen sind Mittelmaß mit deutlichem Trend nach unten. Österreich ist bei der Abwanderung von Forschern gemeinsam mit Italien und Griechenland Schlusslicht in Europa. Dazu kommen Defizite bei der Übersetzung von Forschungsergebnissen in Innovation. In einer Gesellschaft, in der Wachstum über Software und Gehirnschmalz kommen wird, sind das die Investitionsnotwendigkeiten. Das ist ein Befund, der in Österreich seit 20 Jahren gestellt wird, doch die wirtschaftspolitischen Konsequenzen sind eher zögerlicher Natur.

STANDARD: Gern beklagt wird auch die Bürokratie. Zu Recht?

Wieser: Um ein Kaffeehaus in Wien zu kommissionieren, braucht man wahrscheinlich 23 unterschiedliche Behörden. Wenn dann ein Beamter nicht da ist, gehen alle wieder nach Hause. Es gibt ein erhebliches Maß an Bürokratie auf kommunaler und Länderebene. Die Bayern lachen über Österreich, wo es in vielen Bereichen neun verschiedene Regelungen gibt. Noch wichtiger ist aber, wie mit dieser Regulierung umgegangen wird. Bei uns beschäftigt sich die eine Hälfte der Bevölkerung damit, Regulierungen für die andere Hälfte zu administrieren. (Andreas Schnauder, 19.9.2017)