Das 55.000 Plätze umfassende Stadion von Dohuk ist zum Bersten gefüllt. Davor versammeln sich weitere geschätzte zehntausend Menschen, die keinen Platz mehr im Stadium gefunden haben. Alle wollen sie "Serok Barzani" (Präsident Barzani) über die Unabhängigkeit Kurdistans sprechen hören.

Seit Wochen tourt der Führer der Demokratischen Partei Kurdistans, dessen Amtszeit als Präsident der Autonomieregion Kurdistans eigentlich schon vor zwei Jahren abgelaufen ist, durch die Städte Irakisch-Kurdistans, um für sein Referendum am 25. September zu werben. Geht es nach dem weiter eigenmächtig im Amt gebliebenen Präsidenten, sollen die Bewohner Irakisch-Kurdistans am kommenden Montag über ihre Abspaltung vom Irak abstimmen. Barzani betont zwar, dass das Referendum keinen bindenden Charakter habe und nicht zu einer sofortigen Unabhängigkeit Kurdistans führen soll, trotzdem haben bereits jetzt sowohl die irakische Regierung, als auch Parlament und Verfassungsgerichtshof die Volksabstimmung für illegal erklärt. Sowohl die irakische Regierung als auch die Nachbarstaaten Iran und Türkei drohen den Kurden notfalls mit Gewalt.

Unabhängigkeit als Ziel des Widerstands

Niemand weiß derzeit, was am 25. September wirklich geschehen wird. Nach den nationalistischen Mobilisierungen der vergangenen Wochen ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Barzani das Referendum noch verschieben könnte. Einen solchen Schritt könnte er gegenüber der eigenen Anhängerschaft wohl nur noch schwer rechtfertigen. Zu sehr hat er die Unabhängigkeit in den letzten Wochen mit seiner Person und der Geschichte seiner Familie verknüpft.

In Plakaten in Dohuk wird die Familiendynastie beschworen: Junger Masud und Mullah Mustafa Barzani.
Foto: Thomas Schmidinger

Die irakischen Kurden blicken auf eine lange Geschichte an Aufständen zurück, in denen die Familie Barzani über drei Generationen hinweg eine wichtige Rolle spielte. Der Clan, der sich im 19. Jahrhundert als Sheikhs des Sufi-Ordens der Naqshibandiya im Barzan Tal im äußersten Norden des heutigen Irak einen Namen gemacht hatte, wagte bereits Anfang der 1930er-Jahre unter Ahmad Barzani einen Aufstand gegen den entstehenden irakischen Staat. Während Ahmad Barzani, der sich in seinen religiösen Lehren sehr stark vom traditionellen Islam gelöst hatte und von Teilen seiner Anhängerschaft als Reinkarnation Gottes verehrt wurde, in der Selbstdarstellung der Barzanis kaum mehr auftaucht, spielt dessen jüngerer Bruder Mullah Mustafa Barzani bis heute eine zentrale Rolle im kurdischen Nationalbewusstsein des Irak. Als Mitbegründer der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) und Führer mehrerer Aufstände von 1943 bis in die 1970er-Jahre spielt er heute noch die Rolle eines omnipräsenten Nationalhelden.

Die Niederlagen der Barzanis hatten jedoch nicht nur die Angehörigen dieses Clans bitter zu bezahlen. Nachdem ab 1975 die mit der verbliebenen PDK rivalisierende Patriotische Union Kurdistans (PUK) die Rolle der Speerspitze der kurdischen Revolution im Irak übernommen hatte und sich die Barzani-Familie überwiegend ins Exil begeben hatte, begann der Sohn Mullah Mustafa Barzanis, Masud Barzani, erst mit dem kurdischen Aufstand von 1991 wieder eine wichtigere Rolle innerhalb des Iraks zu spielen. Mit der Befreiung großer Teile der kurdischen Gebiete kehrte auch die Spitze der PDK nach Irakisch-Kurdistan zurück und wurde zu einem attraktiven Zufluchtsort ehemaliger Kollaborateure des Baath-Regimes, die sich vor der Rache der PUK fürchteten.

Kurdische Rivalitäten

Im Kurdischen Bruderkrieg von 1993 bis 1997 zwischen PDK und PUK holte sich Barzani schließlich das verhasste Regime Saddam Husseins gegen seine Rivalen von der PUK zur Hilfe. Erst nach dem Sturz Saddam Husseins gelang es auf Druck der USA die beiden verfeindeten Kurdenparteien dazu zu bringen ihre Verwaltungen wieder formal zu vereinigen. De facto blieben jedoch Verwaltungen und die Peshmerga – die kurdischen Kämpfer – Parteimilizen, die entweder der PDK oder der PUK gegenüber loyal sind. Zwischen den beiden Gebieten gibt es bis heute eine gut kontrollierte Grenze. Die Peshmerga der PUK tragen andere Uniformen als jene der PDK. Auch wenn Erbil zur Hauptstadt der Autonomieregion wurde, so blieb Suleymania de facto die Hauptstadt der PUK und wurde zugleich zur Hochburg einer Abspaltung der PUK, der vom im Mai verstorbenen Nawshirwan Mistefa gegründeten Liste Gorran.

Auch in Bezug auf das Referendum ticken die Uhren in Erbil anders als in Suleymania. Während die Bevölkerung im Kerngebiet der PDK neben Erbil vor allem der Norden des Landes mit Dohuk und Zakho in patriotischer Begeisterung schwelgt und jedes zweite Geschäft mit eigenen Abstimmungsplakaten für den 25. mobilisiert, ist die Bevölkerung in Suleymania sichtlich gespalten. Zwar findet man auch hier im PUK-Kernland kaum jemanden, der eine Unabhängigkeit Kurdistans grundsätzlich ablehnen würde, viele Bürger hier kritisieren allerdings den Zeitpunkt des Referendums und unterstellen, dass Barzani dieses nur durchführen lasse, um sich in einer Phase der Führungsschwäche bei Gorran und der PUK als Nationalheld zu inszenieren und von seiner fehlenden Legitimität nach Ablauf seiner Amtszeit abzulenken.

Im Zentrum von Suleymania sieht man lediglich auf dem Büro von Barzanis PDK Referendumswerbung.
Foto: Thomas Schmidinger

Halbherzige Unterstützung durch die PUK

Tatsächlich unterstützt die PUK das Referendum nur halbherzig. Als Grundvoraussetzung für die Unterstützung formulierte die PUK einen Parlamentsbeschluss über das Referendum. Genau dieses Parlament war allerdings von Barzani eigenmächtig aufgelöst worden und der Parlamentspräsident der größten Oppositionspartei Gorran nach Suleymania ins Exil geschickt worden. Extra für den Beschluss über das Referendum wurde dem Parlamentspräsidenten vergangene Woche die Rückkehr in die Hauptstadt Erbil erlaubt. Die Sitzung des wieder eingesetzten Parlaments wurde trotzdem von der größten Oppositionspartei Gorran und einer der beiden politisch-islamischen Parteien boykottiert. Beide lehnen das Referendum zumindest derzeit ab.

In der Hochburg von Gorran und PUK, der Stadt Suleymania ist der Unterschied zu den PDK-beherrschten Städten auch in den Tagen vor dem Referendum offensichtlich. In Suleymania sind außer auf dem Parteibüro der PDK nur sehr wenige offizielle Plakate der Abstimmungskampagne an den Ausfallstraßen der Stadt zu finden. In der Stadt selbst sind im Gegensatz zu Zakho, Dohuk oder Erbil keinerlei Spuren der Abstimmungskampagne zu finden. Auch wenn sich eine von einem lokalen Geschäftsmann getragene Nein-Kampagne weitgehend als Fehlschlag erwiesen hatte und bei einer Versammlung gerade einige hundert Teilnehmer anlockte, so ist von der Begeisterung in Dohuk oder Erbil in Suleymania nichts zu sehen.

Lediglich an den Ausfallstraßen sind wenige der offiziellen Kampagnenplakate zu sehen.
Foto: Thomas Schmidinger

Auch in Suleymania sind durchaus viele Kurden grundsätzlich für die Unabhängigkeit und eine Großkundgebung für die Unabhängigkeit am 20. September war durchaus gut besucht. Zugleich herrscht hier allerdings bei vielen Angst vor der Zukunft. Zu viel steht mittlerweile für viele auf dem Spiel. Skeptische Stimmen, dass die bereits erreichte weitgehende Autonomie durch das Vorgehen Barzanis gefährdet werden könnte, sind hier deutlich häufiger zu hören als in der Hauptstadt Erbil.

Zankapfel Kirkuk

Selbst in Kirkuk gibt es im Vergleich zu Suleymania mehr Plakate für die Volksabstimmung. Die zwischen Bagdad und Erbil umstrittene Stadt, die historisch von KurdInnen, TurkmenInnen, AraberInnen und armenischen und aramäischen Christen bewohnt wird und unter Saddam Hussein einer brutalen Arabisierungspolitik ausgesetzt war, wurde nach der Flucht der irakischen Armee vor dem IS 2014 endgültig von den Peschmerga der PUK übernommen. Die Regionalregierung Kurdistans will unbedingt auch in dieser erdölreichen Provinz die Volksabstimmung durchführen, betont allerdings, dass damit noch keine Entscheidung über den zukünftigen Status der Provinz getroffen werde.

Dabei sind Teile der Provinz bis heute unter Kontrolle des IS. Ob irakische Truppen, die dort derzeit zur Bekämpfung des IS bei Hawija zusammengezogen werden, tatsächlich nur gegen den IS eingesetzt werden sollen.

Auch in Kirkuk hat unter den KurdInnen die PUK das Sagen. Hochrangige Funktionäre der Partei in der Provinz betonen, dass sie für die Durchführung des Referendums eigentlich mehr Zeit zur Vorbereitung bräuchten. Ob gerade im politisch sensiblen Kirkuk das Referendum am Montag ordnungsgemäß durchgeführt werden kann, muss sich damit erst zeigen.

Präsent sind hier aber auch andere kurdische Parteien. Was in Erbil völlig undenkbar ist, ist in Kirkuk Realität: Unter die Fahnen und Symbole der PUK und PDK mischen sich hier auch Fahnen der PKK und Bilder ihres Führers Abdullah Öcalan. Die mit der PDK rivalisierende Arbeiterpartei Kurdistans, kann sich hier im Gebiet der PKK im Gegensatz zum Gebiet der PDK frei bewegen. Die PKK lehnt einen kurdischen Nationalstaat grundsätzlich ab und verfolgt mit ihrem Konzept der „demokratischen Autonomie“ ein völlig anderes Konzept regionaler Selbstverwaltungen.

Dazu kommen in Kirkuk allerdings auch Plätze und Straßenkreuzungen mit turkmenischen Fahnen. Neben vielen AraberInnen in der Stadt, lehnen auch die wichtigsten turkmenischen Parteien eine Unabhängigkeit Kurdistans ab. Während es der PDK gelungen ist einen Teil der turkmenischen Parteien in Erbil auf ihre Seite zu ziehen, lehnen die meisten turkmenischen Parteien in Kirkuk einen Anschluss Kirkuks an ein unabhängiges Kurdistan ab. Dabei dürfte allerdings auch die Türkei mitspielen. Die Irakische Turkmenenfront, die als größte Partei der sunnitischen Turkmenen gilt, unterhält seit ihrer Gründung enge Beziehungen zum türkischen Geheimdienst und zur türkischen Regierung. Von den schiitischen TurkmenInnen sind viele mit der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad verbündet.

In Kirkuk wird auch auf Arabisch für die Unabhängigkeit Kurdistans geworben.
Thomas Schmidinger
Turkmenische Fahnen umgeben eine Statue im Zentrum Kirkuks.
Thomas Schmidinger

Drohungen und Dialogbereitschaft

Drohungen des irakischen Premierministers Haidar al-Abadi notfalls „zum Schutz irakischer Bürger“ auch Gewalt anzuwenden, sind mittlerweile einer gewissen Dialogbereitschaft gewichen. Man könne über alles sprechen, auch über die Unabhängigkeit, wenn Barzani zumindest zu einer Verschiebung des Referendums bereit wäre, heißt es mittleerweile aus Bagdad. Abadi selbst gilt eher als kompromissbereit, will allerdings 2018 wieder gewählt werden und kann deshalb kaum die Einheit des Irak leichtfertig aufs Spiel setzen. Die politische und militärische Abhängigkeit Bagdads vom Iran erschweren es zusätzlich Barzani entgegenzukommen. Zuvor hatten sowohl europäische Regierungen als auch die US vergeblich versucht Barzani überreden, das Referendum zu verschieden. Der US-Sondergesandte McGurk hatte als Alternative vorgeschlagen die Frage der Unabhängigkeit Kurdistans vor die UN zu tragen. All dies konnte Barzani bisher allerdings nicht umstimmen.

Auch die historische Festung von Erbil dient als Werbeträger für die Unabhängigkeit Kurdistans.
Thomas Schmidinger


Wer die Begeisterung der Anhängerschaft Barzanis im Stadion in Dohuk einmal gesehen hat, versteht, warum sich Barzani so kurz vor dem Referendum schwer tun würde, dieses noch zu verschieben. Die patriotische Begeisterung der Basis Barzanis in seiner Kernregion Bahdinan, im Norden Irakisch-Kurdistans ist mittlerweile kaum mehr zu bremsen. Als Barzani vergangenen Samstag im Stadion von Dohuk eintraf, gab es für seine Anhängerschaft vor dem Stadion kein Halten mehr. Tausende Männer – und ein paar dutzend Frauen – überrannten einfach die Absperrungen der Asayish, der kurdischen Polizei und deren Sperrgitter.

In Dohuk sind Firmen, Behörden und Universitäten mit Plakaten für die Volksabstimmung behängt.
Thomas Schmidinger

Innerhalb von Minuten füllt sich auch der bislang leere Sportplatz selbst. Längst sind keinerlei Sicherheitskontrollen mehr möglich. Die jubelnde Masse ruft nach ihrem Präsidenten, schwenkt Fahnen und ruft nach der Unabhängigkeit. Zum Glück stolpert niemand und zum Glück hat sich kein Selbstmordattentäter unter die Masse gemischt. Barzani ist kein großer Volksredner. Er tritt selten als solcher vor die Öffentlichkeit. Hier in Dohuk verkörpert er aber den Traum der Unabhängigkeit, den Traum nach einem eigenen Staat, ein Traum den selbst er nun nicht mehr so einfach enttäuschen kann. (Thomas Schmidinger, 22.9.2017)