Wien – Das entspannte Erzählen ist in der letzten Zeit aus der Mode gekommen, sowohl im häuslichen Bereich als auch im Konzertsaal. Bei Orchesterkonzerten wird mehr und mehr den Extremen vertraut: Versuchen traditionelle Klangkörper oft, durch kraftstrotzende Musik mit Muckis zu imponieren, so bestürmen jüngere Ensembles ihr Publikum gern mit hyperdynamischen, drastischen Interpretationen, die so schnell und krass geschnitten sind wie die Trailer eines Actionthrillers.

Umso schöner, dass es das auch noch gibt: das gute alte Orchesterkonzert. Semyon Byckov war mit dem Orchestra Sinfonica Nazionale della Rai Mittwochabend zu Gast im Konzerthaus, und gemeinsam erzählte man Tschaikowskis vierte Symphonie mit bedächtiger Genauigkeit. Das Scherzo war ganz gezupfte Eleganz, die sich auch im leisesten Pianissimo nicht verlor; das Andantino in modo di canzone war aus Wärme und Empfindsamkeit gewebt. Okay: Die Unisono-Erregungswellen im Allegro con fuoco blieben doch eher flach.

Bychkov formte die Themen mit geruhsamer Hand und sanftem Herzen, kommod agierenden Streichern standen teilweise vorlaute Holzbläser gegenüber. Die Klarinette etwa dudelte mit einer Begleitfigur im zweiten Satz von Rachmaninows c-Moll Klavierkonzert Kirill Gerstein zu, dessen Thema doch eigentlich viel interessanter gewesen wäre. Trotz seines pickelhart intonierten Arbeitsgeräts blieb der gebürtige Russe auch bei den Tutti-Stellen der Ecksätze fast unhörbar. Doch abgesehen davon harmonierten Solist, Dirigent und Orchester wunderbar, boten eine gut abgehangene, fettreduzierte Interpretation des großartigen Schmachtfetzens.

Sympathischer Paradiesvogel

Show mit Substanz wurde am folgenden Abend an selber Stelle geboten: Nemanja Radulović gastierte mit seinem Double Sens Orchestra beim Jeunesse-Konzert im Großen Saal. Den serbischen Geiger darf man als sympathischen Paradiesvogel vorstellen, der optisch an den frühen, wilden John Galliano erinnert: asymmetrischer Lockenfall, Schnurrbart, Latex und Leder, alles da. Im ersten Teil des Konzerts, der populären d-Moll-Werken von Johann Sebastian Bach gewidmet war, waren interpretatorisch am ehesten die Tempi der Ecksätze des Doppelkonzerts BWV 1043 wild, genauer gesagt: gehetzt. Sogar der wundervolle langsame Satz (Radulović spielte das Konzert zusammen mit Tijana Milošević) war frei von aller Ruhe.

Da überzeugte der zweite Programmteil, ein wunschkonzertartiges Potpourri mit Musik aus Osteuropa sowie aus Filmen, mehr: Radulović und seine virtuosen Kompagnons aus Serbien und Frankreich mutierten zum Salonorchester de luxe, das versiert von Khatschaturians "Säbeltanz" zu John Willams' Filmmusik zu "Schindlers Liste" switchte. Helle Begeisterung für den extremen Erzähler, drei Zugaben. (Stefan Ender, 22.9.2017)