2008 in Peking gewann Andrea Scherney mit 4,82 m Weitsprunggold. Ihre Bestmarke lag bei 5,18 m.

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Wien – Ohne die Ereignisse im September 1986, kurz nach ihrem 20. Geburtstag, wäre Andrea Scherney nie Spitzensportlerin geworden. Die Studentin der Sportwissenschaften war unterwegs von daheim in Gars am Kamp nach Kirchberg, wo sie mit einer Freundin lernen wollte.

Scherney, jüngste der drei Töchter ihrer Eltern, aber mit Cousins aufgewachsen und "stets eher wild und sportlich", versuchte, auf der Landstraße auf ihrer 500er-Enduro einen Pkw zu überholen, der es ihr aber nicht zu leicht machen wollte. Blickkontakt mit dem Fahrer war gegeben, nicht aber mit einem entgegenkommenden Lkw. Die junge Frau hoffte, mit ihrem Motorrad in der Mitte durchzukommen. "Der Lkw erzeugt aber einen Sog, ich habe ihn mit dem linken Fuß touchiert."

Scherney stürzte nicht, spürte außer einem Schlag nichts, rollte aus. "Ich bin mit Blinker nach rechts zugefahren, wollte absteigen und bin umgefallen." Der linke Turnschuh samt Vorfuß war weg. "Ich habe den Helm abgenommen, mich selbst in die stabile Seitenlage gebracht und geschrien, geschimpft wie ein Rohrspatz habe ich." Die Geschockte sah dann Männergesichter über sich, hörte ein "na geh, des is a Mädl a no!" Erst eine zufällig anwesende Krankenschwester dachte daran, das verletzte Bein abzubinden. Im Streit der Rettungen aus Horn und Krems, wer nun Andrea Scherney abtransportieren dürfe, trug die Besatzung eines Rettungshubschraubers den Sieg davon. "Ich hab von einem Arzt eine Wunderspritze bekommen, dann sind wir abgeflogen. Da hab ich geglaubt, dass ich in den Himmel komme."

2004 in Athen gab es zu Olympiagold einen Lorbeerkranz.
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Andrea Scherney, heute Sportdirektorin des österreichischen Behindertensportverbandes (ÖBSV), Lektorin für Behindertensport am Institut für Sportwissenschaften der Uni Wien und Lehrbeauftragte an der Bundessportakademie, kam nicht in den Himmel, sondern via Krems ins AKH, wo sie einen "Horrormonat" erlebte, weil die in bester Absicht versuchte Rekonstruktion ihres Fußes ("die Feuerwehr hat das fehlende Stück gesucht und gefunden, die waren schön fertig") nicht gelang. "Mein Körper hat diesen Teil nicht mehr akzeptiert." Die Notamputation des Unterschenkels war eine Erlösung. Die Kunde, dass sie wieder gehen können würde, nahm sie mit gemischten Gefühlen auf. Das ist einerseits sehr viel, war aber andererseits damals für eine Studentin der Sportwissenschaften zu wenig.

Andrea Scherney drängte nach dem Krankenhaus und einer Reha, die grundsätzlich mit sportlichen Behinderten noch wenig anzufangen wusste, nach nur einem versäumten Semester zurück an die Universität – und traf auf Ablehnung, "weil ich die praktischen Dinge des Sportstudiums nicht machen konnte". Ein eingehender Briefwechsel mit dem zuständigen Ministerium änderte die Situation, auch weil Scherney vor ihrem Unfall über eine ihrer Schwestern, die in einer Behinderteneinrichtung arbeitete, mit dem Bereich Prävention und Rehabilitation – "heute sagt man Gesundheitssport" – in Kontakt gekommen war.

Andrea Scherney durfte an der Uni weitermachen – als erste Behindertensportstudentin Wiens. "Die Studenten waren sehr aufgeschlossen, die Lehrbeauftragten zum Teil überfordert." Nicht so Oswald Kneissel, der Lehrbeauftragte für – damals noch – Versehrtensport, der Andrea Scherney auch zum Allgemeinen Behindertensportverein Wien brachte. "Das ist jetzt gegen Inklusion, aber ich habe mich dort wohlgefühlt, weil es fein ist, zu Abwechslung einer von vielen zu sein."

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Andrea Scherney machte sich in Peking 2008 bereit ...
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Andrea Scherney betrieb Sport, Leichtathletik, "und ich wurde relativ schnell gut, weil es auch die Vergleiche noch nicht so gegeben hat". 1991 schloss sie ihr Studium ab, im Jahr darauf sollte sie an den Paralympics in Barcelona teilnehmen, "allerdings wurden einen Monat vorher die Frauenbewerbe in meiner Klasse abgesagt". Drei Goldmedaillen bei der WM 1994 in Merlin (100-Meter-Lauf, Weitsprung, Speerwurf) waren eine Entschädigung. 15 Medaillen bei fünf weiteren Weltmeisterschaften, davon sieben aus Gold, sollten noch folgen.

Überstrahlt wurden diese aber von den paralympischen Erfolgen Scherneys. 1996 in Atlanta holte sie Gold im Speerwurf, 2004 siegte sie in Athen mit Weltrekord (5,02 Meter) im Weitsprung, ein Titel, den sie vier Jahre später in Peking verteidigte. 2000 und in Sydney reichte es zu Silber mit der Kugel und dem Speer.

Bis zu den australischen Paralympics, sagt Scherney, habe es sich um "zielgerichteten Hobbysport" gehandelt. "Da hat auch die Materialentwicklung angeschoben, etwa mit den Karbonfüßen." Scherney selbst, längst einschlägige Funktionärin und mit eigener Lehrtätigkeit beschäftigt, richtete erst ab 2000 ihr Leben ganz auf den Leistungssport aus. Notwendig, denn ab nun wurden auch in diesem Bereich des Sports die Körper optimiert. "Plötzlich standen da echte Athleten am Start, zu meiner Beginnzeit war man talentiert, sportlich. Ab 2008 war der vollberufliche Behindertensportler die Devise."

... und sprang wieder zu Gold.
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2012 feierte London während der Paralympics die "Superhumans". Scherney sah und sieht die Entwicklung mit Unbehagen. Einst sei der Sport in diesem Bereich mehr Mittel zum Zweck gewesen, um Gleichstellung zu erreichen. Mittlerweile könnten nicht schon sehr früh sportlich ausgebildete Athleten bei den Paralympics kaum mehr mithalten. "Wir haben ein Zeitproblem." Und am anderen Ende des Spektrums gebe es immer noch grundlegende Probleme, etwa mit der schulischen Integration ("es gibt immer noch Turnbefreiungen") oder der Infrastruktur, die es Behinderten deutlich schwerer macht, zum Sport zu kommen.

All das treibt Scherney, die seit 2007 mit dem ehemaligen Marathonrollstuhlfahrer Josef Loisinger verheiratet ist, mehr um als der Spitzensport selbst, den sie als "Austausch, die Möglichkeit, gemeinsam für etwas zu kämpfen", geliebt hat. (Sigi Lützow, 25.9.2017)