David Bandurski ist Co-Director des China Media Project und Richard-von-Weizsäcker-Fellow an der Robert Bosch Academy in Berlin.

Foto: Robert Bosch Academy/Anita Back

Seit der Machtübernahme Xi Jinpings 2013 hat sich die Lage in China für den Journalismus und auch für die Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken deutlich verschärft. Vor dem Parteitag hat DER STANDARD mit David Bandurski, Co-Director des China Media Project, über Netzpolitik, Medien, Journalismus und Zensur gesprochen.

STANDARD: Wie groß ist aktuell die Medienlandschaft in China, wie sieht es mit unabhängigen Medien aus?

Bandurski: Das Ende Ihrer Frage ist ein guter Einstieg: Es gibt in China keine unabhängigen Medien. Null. Was es gibt, sind kommerziell geführte Medienbetriebe – Internetportale, die Social-Media-App Wechat – aber das sind keine unabhängigen Medien mit Journalisten. Die Regierung verfolgt eine Politik, die die Autorität über die öffentliche Meinung erhalten möchte. Das heißt, dass die Partei Medien, Nachrichten und Meinungen kontrolliert, um ihre politische Macht zu festigen. Was es schon gibt, sind kommerzielle Nachrichtenmedien, Spin-offs der Parteimedien. In Chinesisch bezeichnet man sie als "Mutter"- und "Kind"-Zeitung. Die Mutterzeitung ist in dem jeweiligen Gebiet, in dem sie sitzt, direkt mit der Regierung verbunden und wird von dieser finanziert. Die kommerziell geführten Kindzeitungen, die meist lokale Geschichten berichteten, schafften es in der Vergangenheit, auch kritische Artikel zu publizieren. Aber seitdem Xi Jinping an der Macht ist, hat sich das geändert.

STANDARD: Wie lässt sich so ein System mit der Existenz des Internets erhalten? Was gilt als Medium, was als Onlineplattform?

Bandurski: Keine Internetplattform hat in China das Recht zu berichten. Das ist etwas, was nur die Mutter- und Kindzeitungen haben. Solche Webportale sind das in der Vergangenheit umgangen, indem sie einfach die Berichterstattung der Zeitungen eingebunden haben und zusätzlich die Funktion eines Forums oder ähnliches zur Verfügung stellten. Ein Umweg war auch, Talks mit Akademikern zu veranstalten. Die Foren und auch die Plattformen selbst wurden allerdings überwacht. In dem Chaos neuer Medien konnte man trotzdem versuchen, auch kritische Geschichten zu verbreiten, die erst später entfernt wurden.

STANDARD: Was hat sich verändert?

Bandurski: Der damalige Präsident Hu Jintao sah 2008 ein, dass es nicht möglich ist, Geschichten einfach nur abzudrehen – also legte er seine Medienpolitik darauf aus, dass die großen Staatsmedien bei wichtigen Ereignissen die ersten sein müssen und dürfen, die berichten. Das Internet war allerdings ein massives Problem: Bevor diese Politik jemals funktionieren konnte, kamen um etwa 2010, 2011 die sozialen Medien. Und soziale Medien, allen voran Sina Weibo, ruinierten alles. Es brachte nichts, den Medien die Berichterstattung bei bestimmten Ereignissen zu verbieten, wenn auf sozialen Medien Videos, teilweise in Echtzeit, kursierten.

STANDARD: Was ist bei Präsident Xi anders?

Bandurski: Seit er 2012 die Macht übernommen hat, sind, unter anderem, Medien an der Spitze seiner Agenda. Und er hat es geradezu unmöglich für Journalisten gemacht, über bedeutende Geschichten frei zu berichten. Letztes Jahr hat er sogar gesagt, dass alle Medien "den Familiennamen Partei tragen müssen", also im Sinne der Partei berichten müssen. Er meinte damit nicht nur die staatlichen Medien "People's Daily" und China Central Television. Er meinte alle kommerziellen Medien, die sich mit Anzeigen finanzieren müssen. Er meinte alle Magazine, er meinte das Radio, das Fernsehen. Und er meinte soziale Medien. Er meinte, das, was Sie und ich auf sozialen Medien posten, muss den Familiennamen Partei tragen.

STANDARD: Was unterscheidet diese Medienpolitik von jener des vorherigen Präsidenten?

Bandurski: Was ihn einzigartig macht, ist erstens seine Bereitschaft, durch die Partei Kontrolle auszuüben. Zweitens ist er entschlossen, Kontrolle durch Innovationen zu erneuern. Er möchte soziale Netzwerke und Plattformen nutzen, um die Botschaften der Partei zu vermitteln – aus diesem Grund kann man von einer Art viraler Propaganda für das digitale Zeitalter sprechen. Xi will alle Zielgruppen ansprechen. Und drittens: Er entschuldigt sich nicht für die Kontrolle. Was wir als Zensur bezeichnen würden und China als die "Lenkung öffentlicher Meinung" bezeichnen würde, ist unbeliebt. Das scheint Xi egal zu sein: Er argumentiert, dass Zensur, so wie wir sie bezeichnen, ein legitimes Recht der Partei sei. Aus diesem Grund sehen wir in den letzten Jahren Gesetz über Gesetz, administrative Verordnungen, die alles regeln sollen. Seien es Chats, Videos …

Früher war Pressekontrolle außerrechtlich. Theoretisch werden Gesetze durch den Nationalen Volkskongress umgesetzt, aber er ist keine reale Macht, die liegt bei der Partei. Was sich bei Xi geändert hat, ist, dass er das Web im Einklang mit dem Gesetz kontrollieren möchte. Das heißt aber nicht, dass man das Recht hat zu sagen, was man will, was Chinas Verfassung eigentlich vorgibt. Es heißt, dass die Partei das Gesetz als Mittel sieht, um das Ziel dieser Lenkung der öffentlichen Meinung zu erreichen.

STANDARD: Wer erlässt diese Gesetze?

Bandurski: Die Cyberspace Administration of China (CAC): Man könnte sich fragen, warum diese Behörde zur Kontrolle des Internets 2014 gegründet wurde, wenn es doch das Propagandaministerium schon gibt. Das liegt daran, dass Letzteres sich mit traditionellen Medien befasst. Das Internet wurde immer vom Informationsbüro des Chinesischen Staatsrats kontrolliert – also der Regierung, nicht der Partei, wie das Propagandaministerium. Das Informationsbüro ist eigentlich dazu da, mit Ausländern zu kommunizieren, also wurde das Internet von Anfang an als ausländisch, gefährlich gesehen – und auch so reguliert. Nun wurde die CAC geschaffen, die auf digitale Inhalte fokussiert ist. Von dort kommen auch all diese genannten Gesetze. Der große Unterschied ist der, dass Xi selbst sie letzten Endes führt. Ich glaube, dass sich diese enorme Macht in Zukunft immer weiter auf die CAC auslagern wird, während das Propagandaministerium langsam an Bedeutung verlieren wird und letztlich nur mehr für grobe, ideologische Themen verantwortlich sein wird.

STANDARD: Wie reagiert die Öffentlichkeit darauf?

Bandurski: Das einzige Ereignis, bei dem die Öffentlichkeit Zensur überhaupt angesprochen hat, war im Jänner 2013, und da ging es um eine Zeitung aus Guangdong namens "Southern Weekly". Zu diesem Zeitpunkt wurde diese in eine Situation gedrängt, bei der sie praktisch nichts mehr schreiben konnten. Nun sei angemerkt, dass die Zeitung einen sehr guten Ruf genoss. Aus Protest kündigten die Journalisten – das hat eine große Welle an Unterstützung auf sozialen Netzwerken ausgelöst und zeigte, dass es Menschen gibt, die gegen diese Zensur sind. Aber das könnte man als Anfang vom Ende bezeichnen: Es wurde gegen die Proteste vorgegangen, und sehr bald verschärften sich die Gesetze, speziell die medienpolitischen. Ein Jahr nach Xis Machtübernahme hörte man von Ereignissen, die früher viel mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten, außerhalb von offizieller Berichterstattung praktisch gar nichts mehr.

STANDARD: Hat die chinesische Bevölkerung ein Verständnis von Pressefreiheit oder Meinungsfreiheit? Sie haben vorhin die chinesische Verfassung erwähnt.

Bandurski: Das ist schwierig zu sagen, gerade in einem System wie dem chinesischen. Die Twitter- beziehungsweise Weibo-Ära ist schon vorbei, wir sind jetzt in der Wechat-Ära. Der Unterschied ist der, dass bei Weibo jedes Posting öffentlich war. Ähnlich wie bei Twitter war es schwierig, Nachrichten zu löschen, weil sie schnell weiterverbreitet wurden. Wechat ist eher wie ein privater Raum. Man kann nicht einschätzen, was wirklich im gesamten Wechat-Universum passiert. Manchmal schreibt man etwas, und kurze Zeit später steht da, dass der Inhalt nicht mehr verfügbar ist. In einem Forum aus 200 Menschen postet jemand einen Artikel, und kurz darauf kann man nicht mehr zugreifen – man merkt also, dass zensiert wird, kann aber das Ausmaß nicht mehr einschätzen. Dementsprechend ist es schwierig, die öffentliche Meinung einzuschätzen.

STANDARD: Kann man annehmen, dass Sina Weibo eine Art Twitter und Wechat ein Whatsapp ist?

Bandurski: Nicht ganz, weil Wechat zusätzlich ein riesiges Ökosystem an E-Commerce hat. Man kann zusätzlich zu den Whatsapp-Funktionen verschiedene Medien und öffentliche Konten abonnieren. Whatsapp ist ein Bruchteil von dem, was Wechat ist. Wechat ist eine kontrollierte Echokammer. Was dazukommt, ist, dass Xi inzwischen Medienunternehmen für die Inhalte von Nutzern auf ihren Plattformen verantwortlich macht. Zusätzlich kann man nur mehr mit Klarnamen kommentieren: Die Anonymität des Webs soll verschwinden. Aus machiavellistischer Sicht ist es beeindruckend, wie viel Xi in den vergangenen fünf Jahren erreichen konnte. Früher hatte man zwei bis drei große Geschichten pro Woche und viele Reaktionen, heute ist China ein sehr, sehr stiller Informationsraum.

STANDARD: Wie gehen Journalisten damit um?

Bandurski: Früher wurde oft erst nach der Veröffentlichung zensiert. Mit Xi und auch schon gegen Ende von Hu Jinatos Regierung hat sich das insofern verändert, dass überhaupt Ideen für Geschichten erst genehmigt werden müssen. Arbeitet man bei den traditionellen Medien, wird man, wenn trotzdem etwas Heikles geschrieben wird, gefeuert oder in eine andere Abteilung geschickt. Dazu kommt, dass die Medienkrise, wie wir sie etwa in den USA und anderen westlichen Ländern vor zehn Jahren erlebt haben, erst jetzt in China eintritt. Das heißt, dass die kommerziellen Medien sowieso um ihre Existenz bangen. Viele, viele erfahrene Journalisten verlassen die Industrie.

STANDARD: Wurde Popkultur, speziell westliche Popkultur nicht schon immer zensuriert?

Bandurski: Sie wurde stark eingeschränkt, ja, aber trotzdem geteilt. Heute ist es "Game of Thrones", früher war es zum Beispiel "Sex and the City". Allerdings wird das immer schwieriger: Xi geht aggressiv gegen VPN und jene, die VPN verbreiten, vor. Erst kürzlich wurde jemand, der Downloads angeboten hat, festgenommen.

STANDARD: Was bedeutet das für China?

Bandurski: Was Xi tut, hat noch kein anderer Präsident getan. Es gab Zensur, es konnte schlimm werden, aber auf eine chaotische Weise war es spannend. Xi räumt dieses Chaos auf. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist, was all diese Sperren für Chinas Innovationen bedeutet. Wie beeinflusst das akademische Recherche? Wie will man in einem so eingeschränkten Umfeld innovativ sein? China war bei diesem Thema immer sehr zuversichtlich. Dass es Entwicklung geben kann, auch digitale und technische Entwicklung, sogar Innovation. Und soziale und politische Kontrolle. Dass es eine Cyberzukunft geben kann, bei der man trotzdem eine Legitimität der Partei durch Kontrolle schaffen kann. Wir sind jetzt wahrlich im Informationszeitalter, nicht nur als Industrie, sondern in jedem Aspekt unseres Lebens. China führt die Welt mit viel Innovation an, hat aber keine offene Konversation über Privatsphäre. Es ist nun einmal so, dass Technologie China in vielerlei Hinsicht vorangetrieben hat. Ich glaube, die Menschen haben während all dieser Verbesserungen nicht darüber nachgedacht, was ihre Privatsphäre bedeutet und wer sie schützt. Technologien wie Gesichtserkennung sind nicht bloß im Kommen. Sie sind da, und sie werden bereits genutzt. China ist in vielerlei Hinsicht ein Ort, den man im Auge behalten sollte.

STANDARD: Wie sieht es mit dem Verständnis für Privatsphäre überhaupt aus?

Bandurski: Ein Beispiel: Früher im Jahr gab es einen Fall, bei dem DNA-Proben von allen Kindern einer Provinz, die jünger als zehn Jahre waren, gesammelt wurden. Und zwar von den Eltern. Begründet wurde das damit, dass man gegen Kindesentführung vorgehen wollte – ein riesiges Problem. Ich kann mich erinnern, ich habe meine Studenten gefragt, was sie davon halten. Niemand, kein einziger von ihnen, hat die Privatsphäre aufgebracht. Und dann hebt ein Student die Hand hoch und sagt, dass er es großartig findet und dass das im gesamten Land gemacht werden sollte.

STANDARD: Was bedeuten diese Entwicklungen für den Rest der Welt?

Bandurski: Die Frage, die man sich stellen muss, ist, wie China die globale Debatte zu all diesen Themen beeinflusst. Seien es Medien, Internetzugriff, Zensur oder Privatsphäre. Ein großer Teil von Xis Strategie ist, China eine lautere Stimme im Bereich der Netzpolitik zu geben. Was China oft vorschlägt und als eigene Erfindung sieht, ist dieser Gedanke von Cybersouveränität.

STANDARD: Cybersouveränität meint?

Bandurski: Ganz einfach erklärt: Es gibt zwei gegensätzliche Ansichten zu Netzpolitik. Einerseits das Internet als dezentralisierter Raum, dessen Zugänglichkeit man erhalten muss und dessen Regulierung durch eine Mischung aus internationalen Organisationen, Regierungen und ziviler Gesellschaft ermöglicht wird. Internetnutzer sollten ein Recht darauf haben zu entscheiden, was für ein Internet es gibt. Die andere Ansicht – und das ist nicht nur Chinas Ansicht, aber das Land ist wohl der größte Befürworter – kommt aus einer eher nationalstaatlichen Sicht. Das Internet hat Grenzen. Chinas Gesetze, auch jene, die zur Kontrolle eingeführt wurden, müssen von anderen Ländern respektiert werden. Diese Idee von staatlicher Souveränität wird in der Dimension des Internets genutzt. Es ist ein weiterer Teil der Strategie, diese extreme Kontrolle zu legitimieren. Es ist nicht mehr so wie bei früheren Präsidenten, dass man es nicht tun will, aber muss. Man will es. Xi entschuldigt sich nicht mehr dafür.

STANDARD: Trotz dieses technokratischen Ansatzes gilt es zu bedenken, dass Plattformen wie etwa Github und Google Scholar Informationen bieten, die für Chinas wirtschaftlichen Erfolg wichtig sind. Könnte das ein Schlupfloch für Kritiker sein?

Bandurski: Der Grund, warum Ideen wie Cybersouveränität jenen, die sich für ein offenes Internet einsetzen, Sorgen bereiten sollten, ist, dass China allein durch die schiere Größe des Marktes einen enormen Einfluss auf Unternehmen hat. Beispiele wie etwa Apple, das VPN-Angebote aus dem Store löscht, zeigen, dass man sich in dieser Hinsicht nicht auf große Unternehmen verlassen kann. China sorgt sich um alles, was irgendwie Einfluss auf das Bild des Landes haben könnte. Wenn ein Akademiker in einem Forum etwas schreibt, was nicht den jeweiligen Interessen entspricht, wird China ein Problem damit haben.

Ein Beispiel: Bei chinesischen Filmen war es früher so, dass man Filme, die nicht von den staatlichen Zensoren gestattet wurden, trotzdem auf internationalen Festivals, wie beispielsweise der Viennale, zeigen konnte. Es hat gereicht, dass es in China nicht ausgestrahlt wurde. Jetzt nicht mehr. Jetzt machen sie sich Sorgen. Und sie üben Druck auf Festivals aus, auch durch die Botschaft im jeweiligen Land. Das Ziel, die Narrative über China zu beeinflussen, ist also zu einem globalen Thema geworden. Es ist keine nationale Angelegenheit mehr, auch wenn China das oft so kommuniziert. Es gibt definitiv Folgen außerhalb dieser Grenzen. Die meisten Plattformen für andere Stimmen als jene der Regierung gibt es in China nicht mehr. Vielleicht wird es in den nächsten Jahren eine Lockerung geben, aber ich sage das nicht voraus – dafür gibt es überhaupt keine Anzeichen. Aber China überrascht immer wieder. Veränderungen in der Technologie haben oft unerwartete Folgen. Wer weiß. (Muzayen Al-Youssef, 18.10.2017)