Wien – Seine jahrelange Arbeit gipfelte, schenkt man der Überlieferung Glauben, in einem euphorischen Heureka-Moment mit anschließendem körperlichem Zusammenbruch. Am Mittag des 14. September 1822 soll der junge Sprachforscher Jean-François Champollion wie von Sinnen zu seinem älteren Bruder Jacques-Joseph ans Institut de France in Paris gelaufen sein, um zu verkünden: "Ich hab's!", ehe er vollkommen erschöpft umkippte. Fünf Tage soll es gedauert haben, bis er sich wieder erholt hatte.

Was genau dem gerade einmal 31-jährigen Champollion gelungen war, führte er dann in seiner berühmten Abhandlung vom 27. September 1822 an der französischen Akademie der Inschriften und Literatur vor einem teils fassungslosen Publikum aus. Die ägyptischen Hieroglyphen, erklärte Champollion den versammelten Experten, seien nämlich keine reine Bilderschrift.

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Aufzeichnungen in einem Notizbuch Champollions. Vor 195 Jahren revolutionierte er die Ägyptologie.
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Europa im Ägyptentaumel

Eine gewagte These: Seit der Antike galten die Hieroglyphen weitgehend als rätselhafte Ideogramme, als Zeichen, die ausschließlich für Ideen standen. In Wirklichkeit aber handle es sich um eine Mischung aus Lautzeichen, Bildzeichen und stummen Zusatzeichen, die der richtigen Deutung anderer Zeichens dienen würden, so Champollion: "Die Hieroglyphenschrift ist ein komplexes System. Sie ist eine Schrift, die bildhaft, symbolisch und fonetisch zugleich ist, und zwar in ein und demselben Text, in ein und demselben Satz und – ich wage es, auch das zu sagen – in ein und demselben Wort", hielt er seine Erkenntnisse später fest.

Die aufsehenerregende Enthüllung kam zu einer Zeit, da sich Europa im Griff einer regelrechten Ägyptomanie befand. Napoleons Ägyptenfeldzug von 1798 bis 1801 war von mehr als 160 Wissenschaftern und Gelehrten begleitet worden, von denen viele bald die altägyptische Hochkultur für sich entdeckten und in Europa bekannt machten. Napoleons Entscheidung, seine Eroberungspläne mit einer wissenschaftlichen Expedition zu verbinden, war nicht allein der Idee der Aufklärung geschuldet. Sie war vor allem ein geschickter Propagandaschachzug, um von machtpolitischen Interessen abzulenken.

Stein des Anstoßes

Anders als die militärische Kampagne trug die wissenschaftliche auch nachhaltige Früchte, allen voran die Entdeckung des Steins von Rosette im Jahr 1799. Das Fragment einer Stele aus dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung enthält eine Inschrift zu Ehren des Pharaos Ptolemaios V. in drei Sprachen: eine Version in Hieroglyphen, eine in Demotisch und eine in Altgriechisch.

Die Inschriften auf dem Stein von Rosette (Hieroglyphen, Demotisch, Altgriechisch) trugen maßgeblich zur Entschlüsselung der Hieroglyphen bei.
Foto: British Museum

Nach der Niederlage gegen die Briten mussten die Franzosen den Stein von Rosette abtreten – er ist bis heute eine Attraktion des British Museum in London. Vervielfältigungen der Inschriften lösten jedoch in ganz Europa ein Wettrennen um die Entschlüsselung der Hieroglyphen aus, das bald auch die Rivalität zwischen England und Frankreich befeuern sollte.

Wegbereiter und Rivale

Zunächst gelangen dem Schweden Johan David Åkerblad die Übersetzung einzelner demotischer Wörter und der Nachweis, dass das Koptische auf das Altägyptische zurückging. Die ersten entscheidenden Schritte zur Entzifferung der Hieroglyphen tat der britische Universalgelehrte Thomas Young. Auf seine Arbeit baute auch Champollion auf, wenngleich er Youngs Beitrag später weitgehend verschwieg.

Anders als Young, der sich in unterschiedlichsten wissenschaftlichen Bereichen tummelte und sich eher nebenbei mit den Hieroglyphen beschäftigte, war Champollion von klein auf von Sprachen besessen. Als der Stein von Rosette entdeckt wurde, war er acht Jahre alt und sofort fasziniert von der rätselhaften Schrift.

Neben Latein und Griechisch lernte Champollion bereits früh Hebräisch, Aramäisch, Arabisch, Persisch und Koptisch. Im Alter von 18 Jahren wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Künste in Grenoble ernannt – und beschäftigte sich bald wissenschaftlich mit den Hieroglyphen. Im Juli 1818 hielt er einen ersten Vortrag über seine Arbeit.

Verräterische Königsnamen

Champollions Analysen des Steins von Rosette ergaben, dass darauf 486 griechische Wörter 1419 Hieroglyphen gegenüberstanden, die wiederum etwa 180 unterschiedliche Bilder zeigten. Folglich konnte es sich nicht um eine reine Bilderschrift handeln.

Er konzentrierte sich, wie zuvor schon Young, auf fremdsprachige Eigennamen in der Inschrift (aus der griechischen Version wird klar, dass der Name Ptolemaios auch hieroglyphisch dargestellt sein muss) und entdeckte den Lautwert einzelner Zeichen. Daneben studierte er Hieroglyphen aus anderen Quellen und konnte bald auch die Namen Kleopatra und Ramses lesen.

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Champollion auf einem Porträt aus dem Jahr 1831. Im Jahr darauf starb er im Alter von nur 41 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls.
Foto: Picturedesk

Champollion knackte das System: Die Hieroglyphenschrift beinhaltet nicht nur für Eigennamen und nicht erst in der ptolemäischen Zeit Lautzeichen, sondern kann nahezu wie eine alphabetische Schrift gelesen werden.

Vorerst stieß er damit auf massive Zweifel, doch nach und nach wurde klar: Die Tür in eine vergangene Welt war aufgestoßen. Wie es der Zufall wollte, öffnete sich genau hundert Jahre nach Champollions Durchbruch eine weitere Tür ins alte Ägypten, die auch die Ägyptomanie weltweit neu anfachte: Der Brite Howard Carter entdeckte 1922 das nahezu ungeplünderte Grab Tutanchamuns im Tal der Könige. (David Rennert, 27.9.2017)