Wien – Gerade in Wahlkampfzeiten hat der Wertebegriff in der politischen Auseinandersetzung Hochkonjunktur. Dabei stehen oft Grundwerte wie Gleichheit, Freiheit oder Gerechtigkeit im Zentrum der Diskussion, und es entsteht der Eindruck, dass es sich bei Werten um vorgegebene Positionen handelt, für die eine Gesellschaft steht und die sich im Laufe der Zeit kaum verändert.

Diesen Befund zeichnet zumindest Christian Friesl von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Wien. Er leitet den neuen Forschungsverbund Interdisziplinäre Werteforschung, mit dem er zu einer "Versachlichung der Wertedebatte" beitragen will.

In einem ersten Projekt des Forschungsverbunds haben Roland Verwiebe und Lena Seewann vom Institut für Soziologie der Universität Wien untersucht, was Werte für die Österreicher überhaupt bedeuten und für welche Werte sie stehen. Dabei haben die Forscher einen anderen Ansatz gewählt, als zumeist üblich ist.

Statistik und Gespräche

Verwiebe: "Die Werteforschung ist historisch gesehen statistisch geprägt, mit einem Hang zum naturwissenschaftlichen Methodenverständnis." Konkret heißt das: Große Umfragen per Telefon sollen Aufschluss über die Wertehaltung geben. Verwiebe und Seewann haben dagegen stärker qualitativ gearbeitet, sprich in Gesprächsrunden mit verschiedenen Gruppen, sogenannten Fokusgruppendiskussionen, sind sie mit unterschiedlichen Menschen über Werte ins Gespräch gekommen – mit dem Versuch, "sie nicht von vornherein mit vorgefertigten Skalen zu konfrontieren, sondern offener zu fragen, was ihnen wichtig ist", sagt Verwiebe.

Basierend auf diesen Diskussionen haben sich die Forscher schließlich der Statistik angenähert und Fragen für eine Umfrage formuliert, die im Juni 2016 durchgeführt wurde und deren Ergebnisse nun publiziert wurden. 1519 Österreicher und Österreicherinnen aus allen neun Bundesländern wurden dafür befragt, die Umfrage ist repräsentativ für Menschen zwischen 15 und 69 Jahren.

Überraschende Ergebnisse

Dabei kamen mehrere überraschende Ergebnisse zutage. Einerseits fanden die Forscher heraus, dass Werte nicht über Jahrzehnte stabil sind, sondern stetig neu verhandelt werden. Bisher sei laut Verwiebe angenommen worden, dass Werte vor allem durch das Elternhaus und die Schule geprägt würden. Die neuen Daten legen hingegen nahe, dass die Wertebildung auch durch den Arbeitsplatz, die Netzwerke sowie von Trennungen oder Krankheiten stark beeinflusst wird.

Infografik zur Wertehaltung der Österreicher und Österreicherinnen basierend auf dem Forschungsprojekt von Roland Verwiebe und Lena Seewann vom Institut für Soziologie der Universität Wien.
Foto: www.werteforschung.at

In diesem Licht sind Werte nichts, was über Jahrzehnte feststeht, sondern sie unterliegen stetigen Veränderungen und werden ganz wesentlich von der konkreten Lebenssituation geprägt.

Konsens trotz Polarisierung

Weiters hat die Forscher überrascht, dass große Schlagwörter wie Humanismus, Selbstbestimmung oder Universalismus große Zustimmung erfahren. "Trotz der Polarisierung im Land gibt es bei der grundlegenden humanistischen Orientierungen einen starken Konsens", sagt Verwiebe. Ganz unterschiedliche Menschen hätten in den Gruppengesprächen teilweise wortwörtlich die gleichen Wünsche für die Zukunft geäußert, berichtet auch Seewann: "Das zeigt, dass auf einer abstrakten Ebene sehr viel Einigkeit besteht."

Bildung für alle ist ein Wert, auf den sich ein überwiegender Anteil der Österreicher und Österreicherinnen verständigen kann. Im Bild: ein Demozug für Bildung am Wiener Urban Loritz Platz.
Foto: APA/ANDREAS PESSENLEHNER

Wie aus der Umfrage hervorgeht, wünschen sich 80 Prozent der Österreicher, dass religiöser Extremismus unterbunden wird. Mit über bzw. knapp unter 70 Prozent erhalten auch Umweltschutz, Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung für alle hohe Zustimmungswerte.

Individuelle Ebene

Für Friesl besteht die Bedeutung des Projekts darin zu zeigen, "dass Werte mehr sind, als sie in den vergangenen Jahren diskutiert wurden". Bisher lag der Fokus auf den Grundwerten, wie sie etwa im Vertrag von Lissabon erwähnt werden. "Doch spricht niemand über die individuelle Ebene von Werten, die ebenso wichtig ist: Werte sind nicht nur etwas Abstraktes, sondern auch etwas sehr Persönliches", sagt Friesl.

Welche Bezüge es zwischen der Wertehaltung und der Wahlentscheidung am 15. Oktober gibt, wollen die Forscher in einem nächsten Schritt analysieren. (Tanja Traxler, 28.9.2017)