Der vielleicht klügste, bestimmt aber der sympathischste Historiker des 20. Jahrhunderts, Eric Hobsbawm ist neben seinen großen Überblicksdarstellungen über das lange 19. und das kurze 20. Jahrhundert vor allem für eine These bekannt, welche die Geschichtswissenschaft gegen Ende des 20. Jahrhunderts maßgeblich bereichert hat. Gemeinsam mit Terence Ranger stellte er fest, dass viele vermeintlich uralte Traditionen sich bei genauerer Betrachtung als Erfindungen der Neuzeit erweisen.

An Hand zahlreicher Beispiele dekonstruierten er und seine Mitautorinnen und -autoren im Sammelband "The Invention of Tradition" eine ganze Reihe an typisch britischen Traditionen und machte dabei auch nicht vor dem berühmten Kilt der Schotten halt, der nicht etwa aus dem Mittelalter stammt, sondern aus dem 17. Jahrhundert. Ähnliches gilt übrigens auch für indisches Yoga oder griechischen Sirtaki, die sogar noch deutlich jüngerer Herkunft sind. Und weil gerade Wiesenzeit ist: Die traditionellen österreichischen Trachten in ihrer bis heute überlieferten Form gehen auf modische Vorlieben des Hofadels zurück, die bald von städtischen Oberschichten nachgeahmt wurden. Mit dem, was die Landbevölkerung im 19. Jahrhundert tatsächlich am Leibe trug, hat das wenig zu tun.

Kniende Footballer

Falls Sie sich jetzt fragen, was dies alles mit Football zu tun hat, so sehen sich auf Youtube Footballspiele aus der Zeit vor 2009 an und achten Sie darauf, was die Spieler während der US-Amerikanischen Nationalhymne tun. Hier ein kleiner Spoiler: Sie werden sehr oft gar keine Spieler sehen, da diese noch in der Kabine sind, sich gerade aufwärmen oder die Kameras gar nicht auf diese gerichtet sind. Die Tradition der patriotischen Spieler, die eine Hand auf der Brust voller Ehrfurcht die Fahne bewundern, wurde als Norm erst 2009 eingeführt. Davor war es den Spielern und den Teams selbst überlassen, wie sie sich während der Hymne zu verhalten zu haben.

Es handelt sich also hierbei offensichtlich um eine erfundene Tradition jüngster Provenienz. Aufbauend auf Hobsbawm sollen erfundene Traditionen unterschiedlichen Zwecken dienen. Sie können soziale Normen transportieren, als kollektive Identitätsstifter fungieren oder gesellschaftliche Hierarchien legitimieren und perpetuieren. Im Falle des Verhaltens der NFL-Spieler während der Hymne lässt sich der Ursprung dieser Tradition sehr direkt zurückverfolgen, wie ausgerechnet der nicht gerade als investigativer Journalist bekannte US-Sporttalker Stephen A. Smith jetzt nachgewiesen hat: Die NFL erhielt ab 2009 mehrere Millionen US-Dollar von Verteidigungsministerium und Nationalgarde für patriotische Werbung. Gleichzeitig wollte die Liga das durch zahlreiche Skandale angeschlagene Image seiner Sportler durch patriotische Gesten aufpolieren.

Knien bei der Hymne: Spieler der Buffalo Bills
Foto: APA/AFP/Getty Images/Brett Carls

Sport und Identität

Dass hier ausgerechnet der Sport als Vehikel für die Konstruktion einer kollektiven nationalen Identität genutzt wird, kommt dabei nicht von ungefähr. Schließlich bietet er einen besonders privilegierten Verhandlungsspielraum zur Diskussion von Gemeinschaft und Identität. Sportliche Erfolge, aber auch sportliche Misserfolge können eingewoben werden in die Erzählung einer nationalen Schicksalsgemeinschaft und jene Mythen liefern, die eine Gemeinschaft benötigt, um funktionieren zu können.

Cordoba ist beispielsweise ein österreichischer Erinnerungsort. Der aus sportlicher Sicht eigentlich relativ bedeutungslose Sieg der österreichischen Fußballnationalmannschaft gegen die bundesdeutsche bei der Weltmeisterschaft 1978 hat Einzug in das kollektive Gedächtnis der vorgestellten Gemeinschaft Österreich gehalten und wird immer wieder aktualisiert – zuletzt besonders prominent anlässlich der Fußballeuropameisterschaft 2008.

Sportler als nationale Heldenfiguren

Wenn wir uns aus europäischer Sicht mit gerümpfter Nase über den amerikanischen Patriotismus im Vorfeld seiner Sportereignisse lustig machen, dürfen wir nicht darauf vergessen, welch zentrale Rolle ein Ort in Argentinien für die Idee einer kollektiven österreichischen Identität spielen kann. Zeitgenössische Zeitungen sprachen 1978 von einer "Rache für Königgrätz" oder gar einer "Revanche für den Anschluss 1938" und noch heute sind die Bilder von Hans Krankls Siegestor, unterlegt mit dem Radiokommentar von Edi Finger, den meisten Österreichern und Österreicherinnen ein Begriff.

Will NFL-Spieler stehen sehen: Donald Trump
Foto: AFP/Brendan Smialowski

Dass US-Präsident Donald Trump jetzt ausgerechnet seine vehementen Angriffe auf die Heroen der US-Sportwelt zum Verhängnis werden könnte, entbehrt zwar nicht einer gewissen Komik, kommt aber nicht von ungefähr. Immerhin ist der Sport seit Beginn des 20. Jahrhunderts einer der beliebtesten Kampfzonen der Nation, seine Protagonisten oft Kristallisationspunkte nationaler Identität. Wie leicht man sich an solch einem sportlichen, nationalen Symbol die Zähne ausbeißen kann, könnte Trump dabei ausgerechnet von einem (ehemaligen) österreichischen Politiker lernen, welcher von allen schwarzen Österreichern ausgerechnet jenen beleidigte, der im Dress der österreichischen Nationalmannschaft zum Publikumsliebling avancierte. (Martin Tschiggerl, Thomas Walach, 2.10.2017)