Karl Lueger (mit Amtskette) im Zuge einer Audienz bei Kaiser Franz Joseph. Das Bild entstand um das Jahr 1910. Damals wurden Umbauarbeiten in Wien besprochen, die vor allem von zugewanderten Arbeitern erledigt wurden.

Foto: Ullstein

Um das Jahr 1900 stellen die Tschechen die größte Minderheit in Wien. Insgesamt weit über 100.000 Behm oder Wenzel oder Tschuschen verlassen gegen Ende des 19. Jahrhunderts Böhmen, Mähren und die Slowakei, um sich in Favoriten, Ottakring und der Brigittenau anzusiedeln. Sie arbeiten als rechtlose Dienstmädchen in feinen Häusern oder barabern in den Ziegelwerken rund um Favoriten.

Die Ziegelbehm ...

Die Prachtbauten der Ringstraße, die das Herz österreichischer Patrioten bis heute höherschlagen lassen, werden von tschechischen Zuwanderern errichtet. Entlohnt wurden sie dafür so gut wie nicht. Der antisemitische Bürgermeister Karl Lueger, Gründungsfigur der sogenannten Christlichsozialen Partei, errang Popularität im Volk, indem er dessen Zorn gezielt gegen Tschechen und Juden richtete. Unter seinen vielen Bewunderern ist der berühmteste bis heute Adolf Hitler.

Ein Jahr nach Luegers Tod schrieb das "Deutsche Volksblatt", eine österreichische Tageszeitung mit großer Auflage, am 30. Jänner 1911: "In letzter Zeit ist aber der Zuzug der Tschechen zu uns nicht mehr normal, sondern wird planmäßig gefördert, um uns Deutsche zu verdrängen und Wien zu erobern. Die Tschechen, die eingewandert sind, sich hier den Magen gefüllt und ein warmes Nest gefunden haben, fordern jetzt die Errichtung tschechischer Schulen. Das würde Millionen kosten, und wir deutschen Steuerträger sollen es zahlen."

... und der fesche Karl

Etwas über hundert Jahre später ist aus den "Christlichsozialen und Antisemiten" (einer der ursprünglichen Namen der Partei) in einer mehr oder weniger spektakulären Folge von Verwandlungen die türkise Bewegung herausgekommen, und ihr Vorsitzender trägt den Namen Sebastian Kurz. Ganz wie dem christlichsozialen Urgestein Karl Lueger, der von vielen Menschen nur der "fesche Karl" genannt wurde, wird auch Herrn Kurz von vielen Menschen Attraktivität attestiert. Tatsächlich ist ein wichtiger Faktor von Sebastian Kurz' vielgerühmtem Talent, vor allem dem ehemaligen ÖVP-Obmann Michael Spindelegger sehr gut gefallen zu haben. Im Gegensatz zu Dr. Karl Lueger hat Sebastian Kurz sein Jusstudium leider nicht abgeschlossen, Sebastian Kurz hat auch noch nie in einer Kanzlei für die Sorgen der "kleinen Leute" gearbeitet, er ist in seinem jungen Leben überhaupt noch keinem bürgerlichen Beruf nachgegangen.

Für weite Teile der Bevölkerung ist dieser Mangel an praktischer Erfahrung allerdings kein Problem, denn Sebastian Kurz verkörpert eine ungleich wichtigere, politische Tugend: Er spricht die Wahrheit. Diese Wahrheit kümmert sich niemals um die sozioökonomische Lage der arbeitenden Bevölkerung oder der Weltwirtschaft, sondern verkürzt sich einzig um das Phänomen der Einwanderung.

Sündenböcke gesucht, ...

Ohne die Einbildungskraft im Mindesten anzustrengen, können wir Herrn Kurz folgende Worte in den Mund legen: "In letzter Zeit ist aber der Zuzug der islamischen Flüchtlinge zu uns nicht mehr normal, sondern wird plan- und schleppermäßig gefördert, um uns Österreicher zu verdrängen und unser Sozialsystem zu erobern. Die islamischen Flüchtlinge, die eingewandert sind, sich hier den Magen mit unseren Sozialleistungen zu füllen, fordern jetzt sogar die Errichtung von islamischen Kindergärten. Das würde Millionen kosten, und wir österreichischen Steuerzahler sollen es zahlen." Die Vokabel und Sündenböcke sind demnach die gleichen wie damals, immerhin wohnen viele Flüchtlinge heute tatsächlich wieder in Favoriten, Ottakring und der Brigittenau.

... warme Suppe inklusive

Die tschechischen Migranten ließ man bis an die Lebens- und Schmerzgrenze arbeiten, um sie mit nichts als einer warmen Suppe zu entlohnen. Arbeitnehmerschutz existierte noch nicht, und dank der ungehemmten Ausbeutung von Arbeitskraft konnte die kränkelnde Volkswirtschaft des Habsburgerreiches über Wasser gehalten werden. Einige Bürger wurden dabei sogar phänomenal reich, und die himmelschreiende Ungerechtigkeit kaschierte man hinter allerlei volkstümelnder Propaganda.

Heute sind die ökonomisch-politischen Strukturen um ein Vielfaches komplizierter, Handelsbeziehungen interkontinental, Grund- und Bodenverhältnisse von Klimakatastrophen bedroht, koloniale Erblasten machen sich auf der ganzen Welt bemerkbar, Österreich ist ein kleines Land inmitten Europas.

Und die sogenannte größte Zukunftshoffnung sogenannter christlichsozialer Politik? Sie spricht wie 1911, als hätte es die Weltkriege nicht gegeben. (Dominik Barta, 27.9.2017)