Krankhafte Narzissten haben meist früh eine pathologische seelische Struktur entwickelt, die sich als Gefühl der Großartigkeit äußert.

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STANDARD: Sie behaupten, dass ein gewisses Maß an Narzissmus für jeden Menschen im Grunde etwas Positives sei. Inwiefern?

Kernberg: Menschen mit einem gesunden Maß an Narzissmus mögen sich selbst, können das Leben genießen und haben ein Gefühl der inneren Einheit, was zentrale Bereiche des Lebens betrifft – also Arbeit und Beruf, Liebe und Sexualität, soziale Beziehungen und Kreativität. Sie erfreuen sich an der Gegenseitigkeit von Liebe und Freundschaft zu Menschen, die ihnen wichtig sind. Es ist zentral für unser Wohlbefinden, dass wir affektive Impulse ausleben, dazu gehören auch Aggressionen im Sinne der Selbstbehauptung und sexuelle Gefühle. Selbst ein gewisses Maße an Abhängigkeit von anderen und die Erlaubnis an andere, von uns abhängig zu sein, stärken einen gesunden Narzissmus. Diese Abhängigkeit ist aber nicht mit Alkohol- oder Drogensucht vergleichbar, und sie hat nichts mit der Abhängigkeit zu einem Menschen in einer selbstzerstörerischen Beziehung zu tun.

STANDARD: Was entscheidet darüber, ob sich Narzissmus in eine krankhafte Richtung entwickelt? Frühkindliche Erfahrungen?

Kernberg: Frühe Persönlichkeitsentwicklungen sind sicher entscheidend – wenn Kinder etwa nicht lernen, Ambivalenzen auszuhalten. Das passiert, wenn das Kind die Spaltung zwischen idealisierten und negativen Teilen eines Erlebnisses oder eines Menschen nicht integrieren kann. Wenn beispielsweise die "ideale Mutter" und die "böse Mutter" getrennt bleiben und nicht zusammengedacht werden können – dann entsteht eine permanente Spaltung des Selbst beim Kind. Es wird andere Menschen unterteilen in solche, die entweder gut und ideal sind und auf seiner Seite stehen und in solche, die böse und seine Feinde sind. Wenn ein Kind in den ersten Lebensjahren liebevolle Beziehungen und eine liebevolle Umgebung vermisst, es aber für bestimmte Fähigkeiten oder sein Aussehen bewundert wird, fördert das die narzisstische Problematik. Anstatt von Liebe lebt das Kind dann von Bewunderung, und sein Ich entwickelt sich in eine problematische Richtung.

STANDARD: Was können Eltern tun, damit Kinder die Gleichzeitigkeit von "Gut" und "Böse" integrieren, Ambivalenzen aushalten und ein gesundes Selbstbild entwickeln?

Kernberg: Ein Beispiel aus meiner Praxis: Die Mutter einer Patientin ist nett und freundlich, solange man ihr gehorcht. Dann ist sie die beste Mutter der Welt. Doch sobald ihr jemand widerspricht, wird sie vollkommen verrückt und bekommt einen 20-minütigen Wutanfall. Sie macht ihrem Kind Vorwürfe, beschuldigt es. Und das Kind entschuldigt sich, ohne etwas getan zu haben. Es lernt sich zu unterwerfen. Wenn der Anfall vorbei ist, ist die Mutter wieder liebevoll. Ihre Wutanfälle werden aber nie diskutiert – es ist unmöglich, über das Böse zu sprechen, wenn alles gut ist. Die beiden Seiten der Mutter wirken, als ob sie nicht zusammengehören und können vom Kind daher nicht ins Mutterbild integriert werden. Dazu kommt ein Vater, der sich der Mutter unterworfen hat und sie auf diese Weise unterstützt. Das ist eine der schädlichsten Familienkonstellationen für Kinder.

STANDARD: Was wäre der Weg aus dieser Konstellation?

Kernberg: Man sollte in einer Familie normal streiten und danach zueinander sagen: "Dieses und jenes hat mich gestört, kannst du das nachvollziehen?". So lassen sich unterschiedliche Erlebnisse und Emotionen verbinden. Beziehungen sind immer ambivalent, weil die Wirklichkeit kompliziert ist. Diese Kompliziertheit wird von narzisstischen Persönlichkeiten aber nicht toleriert.

STANDARD: Was ist nun der zentrale Unterschied zwischen gesundem und krankhaftem Narzissmus?

Kernberg: Auch wenn beide Formen auf den ersten Blick ähnlich aussehen: Während beim normalen Narzissmus ein gesundes Selbst alles leitet, diktiert bei der krankhaften Form ein abnormales und grandioses Selbst. Die Betroffenen haben aufgrund von früheren Frustrationen und Traumatisierungen eine pathologische seelische Struktur ausgebildet, die sich als übermächtiges Gefühl der Großartigkeit äußert. Diese Großartigkeit braucht permanente Bewunderung von außen, um nicht in sich zusammenzufallen. Auf Bewunderung angewiesen zu sein, ist die zentrale Problematik der narzisstischen Persönlichkeit. Die Bewunderung schützt die Betroffenen vor Selbstzweifeln – aber auf Kosten der Beziehung zu anderen Menschen. Krankhafte Narzissten sind unfähig, über sich selbst nachzudenken, die eigenen Fehler und Defizite zu sehen.

STANDARD: Woran erkennt man den krankhaften Narzissmus noch?

Kernberg: Die Betroffenen treten sehr selbstsicher auf und tolerieren keine Kritik, denn das widerspricht ihrem Gefühl von Großartigkeit. Sie verlieren die Fähigkeit, die Effekte des eigenen Handelns realistisch zu sehen und laufen Gefahr, die Außenwelt nicht mehr zu verstehen. Viele entwickeln eine paranoide Einstellung, wenn um sie herum nicht alles so läuft, wie sie es wünschen. Sie sehen sich permanent von Feinden umzingelt, sind misstrauisch und versuchen alles zu kontrollieren, um nicht in eine Falle zu tappen. Und sie projizieren ihre Aggression auf andere Menschen. Wenn eine narzisstische und eine paranoide Pathologie zusammen kommen, dann ergibt das ernste Probleme.

STANDARD: Stimmt der Eindruck, dass die Zahl an krankhaft narzisstischen Persönlichkeiten in unserer Gesellschaft zunimmt?

Kernberg: Unter gewöhnlichen Umständen zeigen sich schwach ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen kaum. Es gibt aber Zeiten, die nicht nur die narzisstische Pathologie, sondern alle schweren Persönlichkeitsstörungen fördern. Diese Zeiten sind gekennzeichnet durch eine große Bevölkerungsdichte, steigende Armut, soziale Traumatisierung und Verwahrlosung, Kriminalität, Drogenmissbrauch und den Verlust traditioneller Familienstrukturen. Wenn die Väter nicht mehr präsent sind, wenn Armut grassiert und schon junge Frauen Kinder bekommen, für die sie nicht sorgen können – dann begünstigt das schwere Familienpathologien, und narzisstische Störungen kommen deutlicher zum Vorschein. Es fehlt dann der normalisierende Effekt der sozialen Strukturen. (Lisa Mayr, 1.10.2017)