Die drei vom Bundeskanzleramt: Martin Schulz und Sigmar Gabriel besuchten vor knapp einem Jahr Christian Kern in Wien.

Foto: Wenzel

Es gibt viele gute Gründe, die SPÖ nicht zu wählen. Das angebliche "Glaskinn" Christian Kerns oder die Aktivitäten von Exkanzler Alfred Gusenbauer zählen jedenfalls nicht dazu. So wie Kerns verblüffende Ähnlichkeit mit Humphrey Bogart kein Argument pro SPÖ darstellt.

Ob Herr Silberstein ein Gauner ist (es gilt die Unschuldsvermutung) oder nicht, mag für böse Schlagzeilen gut sein, aber als Argument für oder gegen ein Kreuzerl bei der SPÖ gibt das nicht viel her (obwohl in dieser Causa ziemlich unverhüllt mit antisemitischen Klischees gefuhrwerkt wurde). Dass Parteimitarbeiter in internen Schreiben andere Mitarbeiter zwischen unfähig und deppert einstufen, mag zwar der gefühlten Realität entsprechen und materialsuchende Journalisten euphorisieren, denn so billig ist der Stoff, aus dem Kommentare geschneidert werden, nicht immer zu haben – aber was fange ich als Wähler mit dieser Einsicht in Gemütslage und Qualifikation von SPÖ-Angestellten an?

Dass die SPÖ bereitwilligst die Zutaten zu jenem Kakao liefert, durch den sie dann in der Presse gezogen wird, ist bemerkenswert, sagt viel über den Niedergang dieser einst kraftvollen Partei aus, wird aber nur wenige bei ihrer Wahlentscheidung beeinflussen. Selbst der ausgerechnet während des Wahlkampfs lancierte Vorwurf eines angeblichen Seitensprungs einer Operettensoubrette, der unvergleichlichen Dagmar "Dagi" Koller, während ihrer Ehe mit dem legendären Wiener SPÖ-Bürgermeister Zilk, ist nicht als jener ultimative Fehltritt erkennbar, der potenzielle Wähler der SPÖ massenhaft vertreiben könnte.

Münchhausen-würdig

Auch die vergleichsweise kleinen Flunkereien der SPÖ (etwa, dass Herr Silberstein nur eine unbedeutende Rolle im Wahlkampf spielen hätte sollen) verblassen neben der eines Münchhausen würdigen Erzählung von der neuen ÖVP und ihres neuen Führers, der sich seine vielen Jahre als Mitglied der noch in Amt und (Un-)Würden befindlichen Regierung nicht als politische Vordienstzeit anrechnen lassen will. Der Kurz war nicht dabei bei der "großen" Koalition. Was sehr österreichisch ist: Hierzulande war im Nachhinein nie jemand irgendwo dabei.

Warum hinkt dann die SPÖ in den Umfragen deutlich hinter der ÖVP durch den Wahlkampf? (Wobei natürlich gilt: Glaube keiner Umfrage, die du nicht bei dir selbst erhoben hast!) Weil die SPÖ sich in der Rolle des Münchhausen bei weitem nicht so wohl fühlt wie Herr Kurz – und schon gar nicht über das gleiche Geschick der Camouflage verfügt. Wo Herr Kurz den Leuten ein Schwarz für ein Türkis vormacht, ist die SPÖ, inzwischen nur noch in mattem Hellblassrosa angefärbelt, nicht in der Lage, diese Farbe vor den Augen der Wähler in strahlendem Rot leuchten zu lassen. Das hat gute Gründe.

Es geht der SPÖ so ähnlich wie ihrer deutschen Schwesterpartei, die meinte, man könne mit einem Herrn Schulz, langjähriger Apologet jedweden neoliberalen Unsinns in der EU, nun die wahren Werte der Sozialdemokratie aus dem Schmollwinkerl im Keller des Parteihauses holen und diese – ein wenig abgestaubt – der Wählerschaft als die neuen Grundprinzipien einer Partei verkaufen, die sich nun wirklich, aber ganz wirklich und endgültig für soziale Gerechtigkeit in den Kampf werfen würde. Möglich, dass die Botschaft gehört wurde. Zum Glauben reichte es nicht.

Neoliberales Voodoo

Auch die österreichische Sozialdemokratie denkt, man könne nach Jahrzehnten des Mitmachens beim neoliberalen Voodoo nun über Nacht das Firmenschild wieder auf Kampfpartei für soziale Gerechtigkeit ändern. Nach Jahrzehnten der Regierungsführung kann die SPÖ schwer erklären, warum sich auch während ihrer Kanzlerschaften die Einkommensschere weit geöffnet hat, die Armutsgefährdung gestiegen ist, das Bildungswesen auf dem Bauch liegt und Wissenschaft und Forschung ausgehungert wurden. Die gefährlichen Einschnitte im Gesundheitswesen (deren negative Folgen sich erst in einigen Jahren voll zeigen werden) hat sie ebenso zu verantworten wie ungerechte Einschnitte im Pensionswesen, die in Zukunft zu gravierender Altersarmut führen werden.

Wie soll der SPÖ eine glaubwürdige Erzählung gelingen, wenn Kern dieser Tage erst behauptet hat (wie einst schon Blair, Schröder & Co), es gäbe "rechts und links" nicht mehr. Quod erat demonstrandum! Dank der Anbiederung der Sozialdemokratie an den Neoliberalismus, dank der Verinnerlichung neoliberaler "Werte" durch ihre Führungsfiguren, gibt es in der Tat zumindest "links" fast nicht mehr. "Rechts" dagegen blüht und gedeiht.

Womit wir bei einem merkwürdigen Paradoxon sind: Jene viele Jahre lang umgesetzte neoliberale Ideen, wegen denen es schwerfällt, heute die SPÖ zu wählen, werden auch von ihren erfolgreichen Gegnern vertreten. Die SPÖ verordnete dieselbe Medizin wie ihre Gegner, war bloß die Partei der kleineren Dosis. Während die eher individualistisch orientierte ÖVP in einem neuen kollektiven Wir-Gefühl schwelgt, plakatierte die eher kollektivistisch orientierte SPÖ den individualistischen und neoliberal klingenden Slogan "Hol dir, was dir zusteht". Eine gelungene neue Erzählung der Sozialdemokratie sieht anders aus. (Michael Amon, 28.9.2017)