Mittwoch, 12 Uhr im Gymnasium Anton-Baumgartner-Straße im 23. Wiener Bezirk. Für die Schülerinnen und Schüler der 6a und 6c steht heute ein "Moraltest" auf dem Programm. Lehrerin Anita Kitzberger gibt ihnen zehn Minuten Zeit, um über die angeführten Aufgabenstellungen nachzudenken: "Auf dem Nachhauseweg vom Supermarkt bemerkst du, dass man dir zehn Euro zu viel herausgegeben hat", "Du bist spät dran für eine wichtige Prüfung, als du am Weg einen Mann siehst, der reglos am Gehsteig liegt". Die Frage lautet immer: Was machst du? A) Ich drehe um und gebe das Geld zurück. B) Ich gehe nach Hause. A) Ich frage, ob der Mann Hilfe braucht. B) Ich gehe weiter.

Langsam legt sich Ruhe über die Köpfe der 15- und 16-Jährigen. Zwei Mädchen stecken die Köpfe zusammen und beginnen zu tuscheln. "Jeder überlegt einmal für sich eine Entscheidung und Begründung, dann besprechen wir das zusammen", sagt Kitzberger, während sie den beiden Mädchen einen prüfenden Blick zuwirft.

Seit 20 Jahren gibt es den verpflichtenden Ethikunterricht für alle "Religionsabmelder" am Gymnasium in der Anton-Baumgartner-Straße.
Regine Hendrich

Kitzberger hat eine kräftige, raue Stimme. Sie wählt ihre Worte mit Bedacht, um ihnen Ausdruck zu verleihen. Hinter ihr hängt eine grüne Tafel, die von der Vorstunde noch mit mathematischen Formeln beschrieben ist. Seit 20 Jahren unterrichtet sie jetzt schon Ethik in der Anton-Baumgartner-Straße. Die Schule war neben der Hegelgasse im ersten Bezirk die erste, die 1997 im Rahmen eines Schulversuchs Ethik als Pflichtgegenstand für alle Schülerinnen und Schüler eingeführt hat, die keinen Religionsunterricht besuchen.

Seitdem steht Kitzberger zweimal in der Woche vor den 15- und 16-Jährigen und diskutiert mit ihnen über Moral. Darüber, was für sie moralisch richtig und falsch ist und wo individueller Egoismus aufhören muss, weil universale Menschenrechte anfangen.

Für die Schülerinnen und Schüler steht heute ein Moraltest auf dem Programm.
Foto: Regine Hendrich

Nach zehn Minuten setzen sich die Schüler in einen Sesselkreis und sprechen darüber, welche Antwortmöglichkeiten sie angekreuzt haben. "Ich würde mich umdrehen und das Geld zurückgeben, da die Kassiererin vielleicht überarbeitet ist und so Fehler leichter passieren", sagt ein braunhaariger Bursche mit weißem Hollister-Shirt. Sein Gegenüber widerspricht ihm schnell: "Ich nehme an, dass sie das Geld nicht aus eigener Tasche zurückzahlen müsste, deswegen würde ich das Geld behalten. Konzerne wie der Spar haben meiner Meinung nach eh viel zu viel Geld." Sein Nachbar schließt sich an: "Ich hätte einfach keine Lust, es zurückzubringen."

"Was bedeutet ehrenhaftes Verhalten für dich?"

Kitzberger hört zu, fasst zusammen und führt ihre Schüler durch die Diskussion. Sie urteilt nicht, sondern fragt nach. Würde man Wörter zählen, wäre Warum wohl das häufigste. Das liegt daran, dass Ethikunterricht für Kitzberger viel mit Argumentation und Diskurs zu tun hat. Wieso würdest du dem Mann helfen? Was bedeutet "ehrenhaftes Verhalten" für dich? Findest du es ethisch richtig, das Geld aus Bequemlichkeit nicht zurückzubringen? Zwischenruf: "Man kann sich drei Kebabs damit kaufen!" Lachen im Sesselkreis.

Die Diskussion verläuft jugendlich und reif zugleich und ist vor allem ehrlich. Die Schüler sollen lernen, ihr Verhalten zu reflektieren und zu begründen. Es ist wie in jedem anderen Pflichtfach auch, einige beteiligen sich mehr, andere gar nicht. Aber niemand schwätzt, alle hören zu.

Die Schüler scheinen den Unterricht zu mögen. Die Gründe dafür sind so unterschiedlich wie ihre Religionszugehörigkeiten. Ungefähr ein Drittel von ihnen ist römisch-katholisch, während der Rest entweder ohne religiöse Bekenntnis oder muslimischen Glaubens ist. Ein Mädchen mit langen braunen Haaren zeigt zurückhaltend auf und sagt: "Ich bin eigentlich auch Moslem, aber sehe mich als 'Scheinmoslem', weil ich einfach nicht daran glaube. Für mich ist Ethik besser als Religion, weil man nicht wie ein Kind behandelt wird und alles sagen kann, was man denkt."

Zuerst denken die Schüler darüber nach, warum sie wie handeln würden, dann wird darüber diskutiert.
Regine Hendrich

Die meisten von ihnen fänden einen Ethikunterricht für alle gut, "weil man hier ganz neue Ansichten bekommt", weil es nicht "so fad ist wie der Religionsunterricht", weil "man keinen Leistungsdruck hat". Nur ein Mädchen in der letzten Reihe sagt, dass sie lieber "Freistunde" hätte.

Die Ethikklasse in der Anton-Baumgartner-Straße ist kein Indiz dafür, dass alle Schülerinnen und Schüler, die einen Ethikunterricht besuchen, auch mit ihm zufrieden sind. Denn jede Schule reicht ihren eigenen Ethiklehrplan beim Bildungsministerium ein und muss ihn jeweils vom Ministerium bewilligen lassen. So etwas wie einen einheitlichen Lehrplan für Ethik gibt es also nicht, was Kitzberger nicht gefällt, weil man "dieses wichtige Fach so der Beliebigkeit überlässt".

Dass Ethik als Fach wichtig ist, finden nicht nur die Lehrer, die es unterrichten. Auch die Schülerinnen und Schüler bewerten den Ethikunterricht "als positiv sowie notwendig" – so steht es zumindest in einer vom Bildungsministerium beauftragten externen Evaluation, die schon im Jahr 2001 präsentiert wurde.

Viele Politiker, viele Meinungen

Auf diese Evaluation berief sich auch der Rechnungshof, als er 2015 die Politik aufforderte, "eine Entscheidung hinsichtlich der Schulversuche Ethik" zu treffen, da diese ihr "Erprobungsstadium" bereits überschritten hätten. Und trotzdem: Zwei Jahrzehnte nach dem Start des Schulversuchs gibt es in Österreich immer noch keine politische Entscheidung darüber, ob und wie Ethik ins Regelschulsystem übergeführt werden soll.

Laut einer Studie aus dem Jahr 2001 bewerten die meisten Schüler den Ethikunterricht als "positiv und notwendig".
Regine Hendrich

Dabei sind bereits 2011 im Rahmen einer parlamentarischen Enquete drei Modelle für die Implementierung des Ethikunterrichts in der Sekundarstufe II durchgerechnet worden. Diese Modelle variieren zwischen "Ethik als neuem, verpflichtendem Gegenstand für alle SchülerInnen", "Ethik als alternativem Pflichtfach für alle, die nicht in den Religionsunterricht gehen", und "Ethik als integriertem Gegenstand in einem anderen Fach", wobei die letzte Variante die billigste wäre.

Aus den Parteien hört man dazu unterschiedliche Positionen. Während die ÖVP es so halten möchte wie bisher, also Ethikunterricht nur für jene, die sich vom Religionsunterricht abmelden, fordert ihr bisheriger Regierungspartner SPÖ einen verpflichtenden Ethikunterricht für alle Schüler. Parallel dazu soll der Religionsunterricht aber bestehen bleiben.

Die Grünen und die Neos haben dazu eine etwas radikalere Einstellung. Sie fordern einen verpflichtenden "Ethik- und Religionenunterricht" für alle Schüler, während Religionsunterricht nur auf freiwilliger Basis bestehen bleiben soll. Die FPÖ ist für die Beibehaltung des Fachs Religion. Für jene, die den Religionsunterricht nicht besuchen, soll es einen Ethikunterricht geben.

"Religionen bieten keine Antworten mehr"

Neben den unterschiedlichen Positionen der Parteien wird oft auch der Kostenfaktor als Grund für die Unentschlossenheit genannt. Kitzberger glaubt aber, dass der Einfluss der Religionsvertreter "sicher auch eine große Rolle dabei spielt".

Für sie ist die Sache klar. Kitzberger steht für einen laizistischen Staat, für eine Trennung von Staat und Religion. Ethik sollte ihrer Meinung nach Pflicht für alle Schüler werden, nicht nur für jene, die keinen Religionsunterricht besuchen. "Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft mit unterschiedlichen Wertvorstellungen. Alle Schüler brauchen einen Rahmen, wo sie sich inhaltlich mit diesen Unterschieden auseinandersetzen können und darüber diskutieren, wie sie sich ein Zusammenleben vorstellen." Religionen würden auf Integrationsthemen und Technologie keine Antworten mehr bieten.

Trotzdem ist sie prinzipiell nicht gegen den Religionsunterricht, weil "Ethik Religion ja nicht ausschließt". Die Angst, dass irgendwann einmal keine Schüler mehr in den Religionsunterricht gehen würden, falls Ethik als Pflichtfach für alle eingeführt wird, kann sie nicht verstehen: "Es sind mittlerweile 20 Jahre ins Land gegangen, und wir Ethiklehrer sind keine Terroristen, und die Menschen gehen immer noch in die Kirche."

Ihr Ziel habe sie dann erreicht, wenn die Schüler ihren Ethikunterricht als "kritisch-selbstbewusste" Menschen verlassen, die "offen auf andere Menschen und Kulturen zugehen und für sich selbst entscheiden können, was das Gute für sie im Leben ist". (Marija Barišić, 2.10.2017)