Der Ton bei Auseinandersetzungen mit dem Gegner ist auch im sonst von Höflichkeit geprägten Großbritannien rau.

Foto: Imago / Bettina Strenske

Ein gewaltiger roter Strudel dominiert das schwarze Weltall. In seiner Mitte verschwinden die Worte: "312 Milliarden – Labours schwarzes Loch". Am Fuß des neuen Wahlplakats hämmern die britischen Konservativen den Betrachtern ihren neuesten Slogan ein: "Labour geht immer zu weit" ("always take it too far").

Rechtzeitig zum Jahrestreffen der Konservativen in Manchester, das an diesem Samstag beginnt, wollen die Strategen der bei der jüngsten Wahl auf eine Minderheitsregierung zurückgeworfenen Tories offenbar dem Fußvolk ein wenig Mut machen. Flugs haben sie nachgerechnet, was die wohltätigen Ideen von Oppositionsführer Jeremy Corbyn die Steuerzahler kosten würden. Die Streichung der Studiengebühren, die Verstaatlichung wichtiger Versorgungsunternehmen (Strom, Gas, Wasser) sowie von Eisenbahn und Post, Mietsenkungen für Sozialmieter und Gehaltserhöhungen für Polizisten und Krankenschwestern sind gewiss nicht zum Nulltarif zu haben.

Slogans als Waffe

Ob sich die Vorhaben aber tatsächlich auf die stolze Summe von umgerechnet 353 Milliarden Euro addieren? Egal – auf den Betrag kommt es letztlich weniger an als auf die Assoziation in den Köpfen der Wählerschaft: Die in den Umfragen führende Arbeiterpartei (43 : 41 Prozent) soll als politisch gutmeinend, aber ökonomisch inkompetent denunziert werden. Damit greifen die Tories auf ein probates Mittel zurück, um der Öffentlichkeit Angst einzujagen.

"Labour funktioniert nicht", lautete der Slogan 1979 zum Foto einer langen Schlange von Arbeitslosen. Im Wahlkampf 1992 illustrierte eine Bombe die geplanten Labour-Steuerhöhungen. Zuletzt wiederholte Theresa May im Vorfeld der jüngsten Unterhauswahl unablässig den Gemeinplatz: "Das Geld wächst nicht auf Bäumen."

Alte Rute im Fenster

Seit Jahrzehnten wecken die fiskalisch vermeintlich vorsichtigen Konservativen also direkt oder indirekt Erinnerungen an die 1970er-Jahre, als die damaligen Labour-Regierungen von einer Wirtschaftskrise in die andere stolperten und immer neue Streiks das Land lahmlegten. Ob die Rechnung diesmal aber aufgeht?

Da sei doch eine ganze Generation aufgewachsen "ohne Erinnerung oder Interesse" am Großbritannien der 1970er-Jahre oder an den Zuständen im real existierenden Sozialismus des Ostblocks, seufzt das konservative Magazin "Spectator". Das Wahlergebnis vom Juni – Labour legte zu, die Tories büßten Mandate ein – habe gezeigt: "Sozialismus ist der Hit des Jahres." Anders als der Altlinke Corbyn (68) hätten die Tories Schwierigkeiten, Wähler unter 40 anzusprechen – zumal jene, deren Löhne stagnieren, während die Mietkosten steigen. Im Vergleich dazu sehe beinahe jede Alternative attraktiv aus.

Sinkende Reallöhne

Tatsächlich hat die Regierung den jüngeren Wählern wenig zu bieten außer reichlich Arbeit zu geringen Löhnen. Die Arbeitslosigkeit ist auf den niedrigsten Stand seit Mitte der 1970er-Jahre gefallen (4,3 Prozent), die Beschäftigungsrate liegt bei 75,3 Prozent und damit so hoch wie nie zuvor. Während sich aber Pensionisten über stetig steigende Renten freuen können, sinken die Reallöhne.

Ähnlich ist die Tendenz beim Wachstum. Eine Überarbeitung der jüngsten Wirtschaftsdaten durch das nationale Statistikamt ONS bestätigte am Freitag den Abwärtstrend. Im Jahr bis Ende Juni 2017, also mehr oder weniger übereinstimmend mit dem Zeitraum seit dem Brexit-Referendum, ist die Volkswirtschaft lediglich um 1,5 Prozent gewachsen – eine Rate, die von den vergleichbaren Industrieländern Frankreich (1,8) und Deutschland (2,1), aber auch von der Eurozone (2,3) mühelos übertroffen wird.

Erstmals wieder sinkende Hauspreise

Im Juli sank die Leistung des Dienstleistungssektors, der auf der Insel mehr als 80 Prozent ausmacht, um 0,2 Prozent. Und im dritten Quartal gaben der Hypothekenkasse Nationwide zufolge zum ersten Mal seit 2009 die Hauspreise in London nach.

Wer das angesichts des total überhitzten Immobilienmarktes für eine gute Nachricht hält, hat zwar einerseits recht. Andererseits sind viele Hausbesitzer bis über beide Ohren verschuldet und rechnen mit einer stetigen Wertsteigerung ihrer Unterkunft. Zu allem Überfluss liegt die Teuerungsrate bei 2,9 Prozent und damit deutlich höher als das vom Parlament vorgegebene Zwei-Prozent-Ziel der Bank of England (BoE). BoE-Gouverneur Mark Carney schürte deshalb gegenüber der BBC die Erwartung, sein Monetärausschuss werde im November den Leitzins auf 0,5 Prozent anheben. Das könnte eine Reihe jener Immobilienbesitzer in Schwierigkeiten bringen, deren Hauskredit an den Leitzins gebunden ist.

Schreckgespenst Turbokapitalismus

Corbyns Popularität und die Schwäche der May-Regierung führen zu einem spannenden Ergebnis: Wenn es ausnahmsweise einmal nicht um den Brexit geht, wird auf der Insel zum ersten Mal seit langem wieder über Grundsätze von Wirtschaft und Politik diskutiert. Auf ihrem Parteitag in Brighton setzte die Labour-Opposition eindeutig auf stärkere staatliche Eingriffe in das freie Spiel der Kräfte, das Regierungen beiderlei Couleur jahrzehntelang favorisiert hatten.

Der mächtige Londoner Bürgermeister Sadiq Khan lieferte ein konkretes Beispiel: Seine Verkehrsbehörde TfL entzog dem US-Taxiunternehmen Uber die Lizenz in der Hauptstadt, einem ihrer lukrativsten Märkte weltweit. Knebelverträge für die angeblich freiberuflichen Fahrer, allzu laxer Umgang mit Vorwürfen, wonach einige Fahrer ihre weiblichen Fahrgäste sexuell belästigt hatten, sowie knallharte Steuervermeidung führen die Aufseher gegen das Unternehmen ins Feld – Uber, so scheint es, verkörpert wie Starbucks und Apple die hässliche Fratze des globalen Turbokapitalismus.

Lobeshymne auf den freien Markt

Freilich haben die Taxler ebenso wie Kaffeeröster und Computerbauer treue Anhänger. Binnen einer Woche sammelte Uber mehr als 800.000 Unterschriften gegen die TfL-Verfügung. Zu den Unterzeichnern zählt offenbar auch die Premierministerin. Jedenfalls nutzte die Konservative die Gelegenheit einer Rede bei der Bank of England (BoE) auch gleich zu einem Tadel für Khan: Dessen Feldzug gegen Uber habe dessen rund 40.000 Fahrer und 3,5 Millionen Kunden "beschädigt".

Die frühere BoE-Ökonomin May kehrte aus einem besonderen Anlass an ihre frühere Wirkungsstätte zurück: 20 Jahre ist es her, dass Labour-Finanzminister Gordon Brown die Zentralbank in die Unabhängigkeit entließ – kurioserweise gegen die Stimme der damals frisch ins Unterhaus gewählten Konservativen. Davon unbeirrt gratulierte die Regierungschefin und nutzte die Gelegenheit zu einer Lobeshymne auf den freien Markt: Dieser sei die "wichtigste Ursache für den gemeinschaftlichen Fortschritt der Menschheit".

Sprach's und packte die Koffer für ihren Parteitag in der Heimatstadt des Manchester-Kapitalismus. (Sebastian Borger aus London, 30.9.2017)