Wien – Ungefähr fünf Minuten Fußweg hatte ÖVP-Obmann Sebastian Kurz von der elterlichen Wohnung in Wien-Meidling zu bewältigen, wenn er in die Disco U4 gehen wollte. Etwa gleich weit entfernt liegt die ÖVP-Parteiakademie in der Tivoligasse. Kurz ist längst aus dem Kinderzimmer ausgezogen und wohnt nun laut Auskunft seiner Nachbarn in einem schicken Neubau. Ums Eck bei den Eltern und mittlerweile noch näher an der Parteiakademie. Das Meidlinger Tor zum Schlosspark Schönbrunn, das Schönbrunnerbad sowie die Botschaft von Bosnien und Herzegowina liegen hier in der Nähe. Relativ ruhig geht es in seiner Straße zu.

Das Bürgertum hat sich in Obermeidling angesiedelt.
DER STANDARD

Obermeidling bezeichnet Pepo, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu Kurz wohnt, als den bürgerlichen Teil von Meidling. Er lobt die Infrastruktur, die wunderbaren Lokale.

Kindheit am Land

Als ihn der damalige ÖVP-Chef Michael Spindelegger zum Staatssekretär für Integration machte und er von Journalisten gefragt wurde, was ihn denn für diese Funktion kompetent mache, erklärte Kurz mehrfach, er sei "im Zwölften" aufgewachsen, habe öffentliche Schulen besucht. Im Gymnasium hätten fast die Hälfte der Schüler Migrationshintergrund gehabt.

Wohl auch aus strategischen Überlegungen – Kurz ist auf die Stimmen traditioneller ÖVP-Wähler vom Land angewiesen – inszeniert er sich nun im Wahlkampf als Kind vom Land. Am Wochenende, immer wenn frei war sowie in den Ferien sei er im niederösterreichischen Zogelsdorf gewesen.

In der Tivoligasse ist die Botschaft von Bosnien und Herzegowina angesiedelt, ebenso die ÖVP-Parteiakademie.
Foto: burg

Und zwar auf dem Bauernhof, von dem seine Mutter stammt, lässt er in einem seiner Imagevideos wissen. Leistungsbereitschaft, aber auch familiäre Geborgenheit hätten ihm die Mutter, eine AHS-Lehrerin, und der Vater, ein Techniker, vermittelt, heißt es in dem Video. Er habe sein Leben immer als schön empfunden, aber goldene Löffel habe er nie im Mund gehabt, hat Kurz in einem seiner Antrittsinterviews erklärt.

Kurz hat das Gymnasium in der Erlgasse besucht. In diesem Teil Meidlings reihen sich stark in die Jahre gekommene Gemeindebauten aneinander. In einem dieser Bauten aus der Nachkriegszeit wohnt Petra. Sie ist alleinerziehende Mutter zweier Kinder. 50 Quadratmeter hat die kleine Familie zur Verfügung.

Sparen für die Projektwoche

Auf die Frage des STANDARD, wie es ihr hier in Meidling geht, sprudelt es aus ihr heraus. Sie fürchte sich davor, wenn ihr Ältester in die vierte Klasse kommt. Dann sei nämlich eine Projektwoche geplant. 180 Euro wird das mindestens kosten, das habe die Lehrerin zum Glück bereits in der dritten Klasse verkündet. Schon jetzt spare sie dafür. Der jüngere Sohn sei noch im Kindergarten. "Zum Glück ist es wieder ein Bub geworden, der kann die Sachen vom Größeren tragen."

Zum Leben bleiben ihr und den beiden Kindern monatlich rund 400 Euro, erzählt Petra. Wie man damit auskommt? Sie habe viele Tricks drauf. Am Monatsanfang, wenn noch Geld da ist, kaufe sie reichlich haltbares Essen wie zum Beispiel Nudeln ein.

Rege Bau- und Renoviertätigkeit bemerken die Meidlinger. Mit der Modernisierung steigen auch die Preise für Wohnraum.
Foto: burg

Am Meidlinger Markt weiß sie, wie sie günstig zu Obst und Gemüse kommt. Und dann gibt es noch Billigdiskonter, deren Angebote sie nutzt. Wenn es hart auf hart kommt und zum Beispiel nicht einmal Geld für Verdünnungssaft für die Kinder da ist, klopft sie bei den Nachbarn an. Dort lebt ein älteres Ehepaar, das ihr ab und zu einen Geldschein zusteckt.

Als ihren vorläufigen Tiefpunkt beschreibt Petra jenen Tag, als einfach kein Geld mehr für Klopapier da war. Ihr sei nichts anderes übriggeblieben, als sich in einem Lokal eine Rolle "auszuborgen". Wenn die Kinder größer sind, will sie ihre Ausbildung nachholen. Petra würde gerne Pflegerin werden. "Solche Leute werde immer gebraucht." Über den Vater ihrer Kinder will sie nicht sprechen. Nur so viel: Von ihm und auch von ihren Eltern gebe es kaum Hilfe.

In der Gegend wohnt auch Herbert. Er ist 80 Jahre alt und vor drei Jahren zusammen mit seiner Frau in eine Gemeindewohnung gezogen. 700 Euro für 82 Quadratmeter, das konnte sich das Paar mit der gemeinsamen Pension gut leisten. Mittlerweile ist die Frau des ehemaligen Möbelpackers verstorben. Eigentlich würde er gerne in eine kleinere Wohnung ziehen. "Aber umziehen kann man nicht mehr mit 80."

Gentrifizierung in Meidling

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Szenenwechsel. Der Meidlinger Markt ist ein wichtiger sozialer Treffpunkt für die Meidlinger. An den Marktständen kann man schon lange die Vorboten einer Gentrifizierung erkennen. Zwischen preiswerten Marktständen, Döner- und Würstelbuden haben sich Stände etabliert, für deren Produkte man tief in die Tasche greifen muss.

Tief in die Tasche greifen muss auch, wer in Meidling eine Wohnung mieten oder gar kaufen will. Neubaumieten um 900 Euro für 70 Quadartmeter sind auch in Meidling keine Seltenheit mehr ist.

"Jung, urban, aufstrebend"

Ein Wohnbauträger der gerade Wohnungen für sein Projekt "Skyfall" in unmittelbarer Nähe zum Meidlinger Mark verkaufen will, wirbt mit den Slogan "Meidling: jung, urban, aufstrebend". Wer 412.500 Euro hinblättert, kann am 1. April 2019 in eine 77-Quadratmeter-Wohnung im vierten Stock des hippen Skyfall-Gebäudes einziehen.

"Der Meidlinger Wohnungsmarkt ist in Bewegung. In den letzten Jahren hat sich der Preis um 20 bis 30 Prozent erhöht, was die Neubauten betrifft. Derzeit werden an vielen Ecken schöne Altbauten abgerissen, und es werden überall die gleichen Null-acht-15-Bauten hingesetzt", sagt Mark, der am Meidlinger Markt das Kuchengeschäft Hüftgold betreibt.

Auch Pepo erzählt, dass in Meidling viele Gründerzeithäuser abgerissen werden. "Begehrt ist, wenn zwei Häuser nebeneinander sind, die man wegreißen kann. Dann wird neu gebaut. Bauklassen werden ausgenützt oder überschritten, um das Maximale aus der Liegenschaft herauszuholen."

Glanz und Gloria

Ein weiter Blick zurück in die Geschichte Meidlings zeigt, dass Glanz und Gloria in dieser Gegend einmal fröhliche Urständ feierten. 1830 wurde in der einst vornehmen Villengegend in der Nähe des kaiserlichen Schlosses Schönbrunn das Vergnügungszentrum Tivoli eröffnet. Nach dem Vorbild von Rutschen aus Russland wurde eine Rutschbahn mit vier nebeneinanderliegenden Gleisen errichtet. Auf zweisitzigen Wagen konnte man rutschen. Es war Aufgabe des "Hutschenschleuderers", die Rutschwagen für die heitere Gesellschaft bereitzustellen.

Der Name Tivoli war übrigens der schönen Aussicht geschuldet, die man beim Rutschen auf das Wiental hatte. Die Gartenanlagen von Tivoli östlich von Rom dienten als Namensgeber für die Vergnügungsstätte, bei der auch Speis und Trank nicht fehlten. Im Tivoli wurden rauschende Feste gefeiert, zu denen sich das Bürgertum und der Hochadel einfanden.

Meidlinger L

Zum immateriellen Kulturerbe Meidlings gehört ohne Zweifel das berühmte Meidlinger L (Hörprobe). Es ist eine sprachliche Besonderheit, die – so sagte man einmal – die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse auswies und keinesfalls nur in Meidling gesprochen wird.

Der in Hernals aufgewachsene Altkanzler Franz Vranitzky ist für sein dickes L ebenso bekannt wie der Fußballer Hans Krankl, der in Mariahilf groß wurde. Ob dem Listenführer Sebastian Kurz die Aussprache des Meidlinger L liegt, ist derweil leider noch nicht überliefert. (Katrin Burgstaller, 5.10.2017)