Peter Schwarz, "Julius Tandler. Zwischen Humanismus und Eugenik", € 29,- / 319 Seiten, Edition Steinbauer, Wien 2017.

Wien – Er war in der Zwischenkriegszeit bei den "völkischen" Studierenden der meistgehasste Professor der Uni Wien: Entsprechend umfangreich ist die Dokumentation "Chronologie des Terrors", die der Anatom Julius Tandler (1869-1936) zwischen 1920 und 1933 anlegte, um die regelmäßigen Übergriffe gegen sein Institut zu dokumentieren. Dutzende Verletzte waren die Folge, darunter auch zahlreiche Studierende aus den USA.

Warum Tandler für die immer rabiateren (Proto-)Nazi-Studenten ein rotes Tuch war, ist leicht erklärt: Der zum Katholizismus konvertierte Anatom war jüdischer Herkunft. Und als Wiener Gesundheitsstadtrat galt er als der sichtbarste und zugleich mächtigste Repräsentant der Sozialdemokratie an der Uni.

Humanist und umstrittener Eugeniker

Mit Tandlers Namen ist bis heute die Einführung moderner wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen untrennbar verbunden, die bis heute Bestand haben – und eingängige Leitsätze wie "Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder". Zugleich war Tandler aber sowohl an rassenbiologischen wie auch eugenischen Fragen interessiert und sprach sich für die Vernichtung "unwerten Lebens" aus – in verstörenden Formulierungen, die nach schlimmster NS-Propaganda klingen.

Diese dunklen Seiten Tandlers werden seit der Pionierarbeit von Doris Byer ("Rassenhygiene und Wohlfahrtspflege") vor 30 Jahren zunehmend kritisch diskutiert. So wurde etwa im Zuge der Umbenennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings immer wieder die Forderung erhoben, auch den Julius-Tandler-Platz umzutaufen oder zumindest Schilder mit entsprechenden Erklärungen aufzustellen.

Spezialist für "dunkle Flecken"

Die jüngste Arbeit, die Tandlers eugenische Fehltritte, aber auch sein humanistisches Wirken einordnet, stammt vom Historiker Peter Schwarz, der lange für das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands arbeitete und quasi ein Experte für heikle Themen der Sozialdemokratie ist: So befasste sich Schwarz unter anderem mit den "braunen Flecken" des Bundes sozialdemokratischer Akademiker (BSA). dem unter anderem der Kinderarzt Heinrich Gross seine Nachkriegskarriere verdankte

Schwarz' neue Studie hält, was ihr Titel – "Julius Tandler. Zwischen Humanismus und Eugenik" – verspricht: Der Historiker konzentriert sich zum einen auf das gesundheitspolitische Wirken des Anatomen, zum anderen auf dessen einschlägige eugenische Äußerungen im Kontext der Debatten in der Zwischenkriegszeit. Neues Quellenmaterial liefert die Untersuchung nur bedingt; immerhin hat Schwarz aber die Äußerungen Tandlers im Gemeinderat vollständig aufgearbeitet.

Wissenschaftliche Hintergründe

Zu Beginn wird auch Tandlers Tätigkeit als Anatom und Wissenschafter kurz gestreift. Dieser Teil bleibt etwas kurz, dennoch gelingt es Schwarz auf Basis einiger neuerer Arbeiten recht gut, die Hintergründe für Tandlers Biopolitik zu rekonstruieren: Der Anatom war Anhänger der sogenannten Konstitutionslehre und – so wie der Biologe Paul Kammerer und der Soziologe Rudolf Goldscheid – Anhänger der Vererbung erworbener Eigenschaften. Die drei Neolamarckisten wollten also durch eine Verbesserung der Umwelt die Gesellschaft zum Positiven verändern, was Tandler in die Praxis umsetzte.

Warum sich Tandler zu so menschenverachtenden Aussagen über "unwertes Leben" verstieg, setzt Schwarz mit Goldscheids "Menschenökonomie" in Beziehung. So drastische eugenische Ideen zur "Ausmerzung" wurden nach 1918 nämlich im deutschsprachigen Raum sonst vor allem von neodarwinistischen Rassenhygienikern geäußert, die politisch eher rechts standen.

Nichtrezeption durch die Nazis

Dass Tandler schon allein wegen seiner Verhasstheit bei den Nazis als Vordenker der NS-Vernichtungspolitik nicht infrage kam, ist offensichtlich. Und auch bei der Sozialdemokratie fand er damit kein Gehör, wie Schwarz belegt, der in einem Anhang Tandlers "schärfste" rassenbiologischen und eugenischen Aussagen zusammentrug. Man mag, wie Schwarz (und auch Wolfgang Neugebauer im Vorwort) argumentiert, diese Nichtrezeption zu Tandlers Gunsten auslegen.

Ob dadurch diese eugenische Fehltritte tatsächlich weniger unerträglich und "harmloser" werden als etwa ganz ähnlich lautende Aussagen von Konrad Lorenz, bleibt freilich auch nach diesem Buch eine offene Frage. (Klaus Taschwer, 4.10.2017)