In Barcelona demonstrierten am Sonntag tausende Menschen gegen eine Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien.

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Gespräche, das fordern diese Demonstranten.

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Die Verfassung Spaniens lässt den höchsten Richtern der iberischen Halbinsel keinen Entscheidungsspielraum: Das Land sei unteilbar und regionale Referenden über die Abspaltung von Spanien unzulässig. Das katalanische Referendum vom 1. Oktober gehörte also verboten. Zumindest wenn man das Recht wörtlich auslegt. Aber es gibt eine Verfassung, eine womöglich noch wichtigere Verfassung als die Spaniens, die den Katalanen alles Recht bescheinigt, den Weg in die Unabhängigkeit zu gehen. Die Europäische Verfassung. Klar, Europa hat keine Verfassung, keine im juristischen Sinn. Aber es gehorcht einem Grundprinzip, das man gut und gerne seine Verfassung nennen kann: Die Nationalstaatlichkeit.

Grundprinzip Nationalstaatlichkeit

Ein nach der Senatswahl leicht geschwächter Emmanuel Macron und eine nach der Bundestagswahl stark geschwächte Angela Merkel verfolgen zumindest rhetorisch den Weg eines stärker vereinten und weniger nationalstaatlichen Europas. Aber Brexit, Schottland, die stark auf ihr individuelles Interesse pochenden osteuropäischen Länder und der wiedererstarkte Nationalismus in vielen Kernländern Europas lassen die französisch-deutsche Marschroute utopisch erscheinen.

Zurück zu Katalonien: Solange Nationalstaatlichkeit das ordnende Prinzip der Europäischen Union ist, hat Katalonien alles Recht, sich selbst als solcher zu definieren. Es mag dumm sein, wirtschaftliche Einbußen, politische Isolation und gesellschaftliche Segregation bringen. Aber solange garantiert ist, dass ein höheres Prinzip – nämlich liberale Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Demokratie – in einem potentiellen neuen Staat in Europa garantiert ist, kann keine Nationalverfassung einer Volksgruppe, die sich von dieser nicht repräsentiert fühlt, verbieten, einen eigenen Staat auszurufen. Das gilt für Katalonien, Schottland, Südtirol und alle anderen "nationalen Minderheiten" Europas.

Keiner profitiert von der Sezession

Deshalb der Schlachtruf votarem! Die katalanischen Sezessionisten haben den Nerv der Bevölkerung getroffen, indem sie das Referendum ergebnisoffen beworben haben. Ihr Slogan: "Wir werden wählen!", nicht "wir werden uns abspalten!". Hätte die spanische Regierung nicht auf die dümmste und unbeholfenste aller Weisen auf das katalanische Referendum reagiert, indem sie mit Polizeigewalt die Abhaltung des Referendums zu verhindern versucht hat, hätte der Slogan nicht funktioniert und nicht halb so viele Katalanen hätten der sezessionistischen Idee etwas abgewinnen können. Die weiter unbegründete Berufung auf die spanische Verfassung und die Notwendigkeit der Einheit Spanische Einheit stieß jedoch – zu Recht! – auf taube Ohren. Was im Gesetz steht, ist nicht richtig, weil es im Gesetz steht. Es steht im Gesetz, weil es richtig ist – zumindest wenn der legislative Prozess funktioniert. Wenn eine Frau auf offener Straße belästigt wird, muss ich nicht erst in das Strafgesetzbuch schauen, um zu wissen, dass hier Unrecht geschieht.

Was ist nun mit der spanischen Einheit, die in der Verfassung Spaniens verankert ist? Die ist erstens richtig, weil keiner von der Sezession der Katalanen profitiert. Spanien nicht, Europa nicht, selbst Katalonien nicht. Zweitens ist sie richtig, weil ein nationalistischer Flickenteppich in Europa der europäischen Grundidee der Grenzenlosigkeit und Freizügigkeit widerspricht. Drittens ist sie richtig, weil Nationalstaatlichkeit falsch ist. Dieser Punkt ist wichtig – aber schwierig: Einheit Spaniens heißt, dass keine nationalen Grenzen durch Spanien hindurch gehen. Es heißt nicht, dass Spanien ein vollständig souveräner Nationalstaat sein muss. Im Gegenteil: Solange Nationalstaatlichkeit das ordnende Paradigma Europas ist, ist Katalonien ein eigener Staat, Korsika ein Teil Italiens, Südtirol eine österreichische Provinz, das Baskenland autonom und so weiter. Einheit Spaniens heißt Einheit Europas heißt keine nationalen Grenzen in Europa. Weg mit den Nationalstaaten, auch mit den Großen!

Weg mit den Nationalstaaten!

Nur so wird man nationalistische und sezessionistische Bewegungen los, die letztlich nur Konflikte schüren. Aber auch nur so kann garantiert werden, dass nationale Minderheiten in vielen Staaten immer und immer wieder dafür kämpfen müssen, ihre Sprache, ihr Brauchtum und ihre Kultur nicht nur im rein Privaten leben zu können. Die Katalanen machen rund 16 Prozent der spanischen Bevölkerung aus. Das spanische Parlament beschließt per Abstimmung, die Mehrheit setzt sich durch. Wenn nationale Interessen die Maßgabe der Politik sind, werden sich die Spanier im demokratischen Prozess immer durchsetzen. Sie machen rund drei Viertel der Bevölkerung aus. Dabei sind die Katalanen eine der größten nationalen Minderheiten in Europa. Was ist mit den Kärntener Slowenen? Was mit den Südtirolern in Italien? Die Nordiren in Großbritannien? Schweden in Finnland? Ungarn in Rumänien? Basken in Spanien und Frankreich?

Die Liste ist endlos und zeigt eines besonders: Ländergrenzen und Grenzen zwischen Nationalitäten sind fast nie identisch. Der Grund ist einfach: Ländergrenzen sind Linien auf Landkarten, Grenzen zwischen Nationalitäten sind meist große Gebiete, in denen beide angrenzenden Bevölkerungen siedeln und zusammenleben. Auch deshalb ist eine katalanische Staatsgründung falsch. Sie zieht eine willkürliche Grenze zwischen Spaniern und Katalanen. Manche Katalanen würden draußen bleiben, manche Spanier gegen ihren Willen sich plötzlich in einem neuen Staat wiederfinden. Aber ein katalanischer Staat ist richtig, weil in Europa alle großen Bevölkerungsgruppen einen eigenen Staat haben. Die Lösung ist simpel. Nationalstaaten: Entweder ganz oder gar nicht! Die spanische Regierung sollte das beherzigen. (Aloysius Widmann, 9.10.2017)