Tübingen – Epilepsie ist eine der häufigsten chronischen Erkrankungen des zentralen Nervensystems. In Deutschland sind mehr als eine halbe Million Menschen von Epilepsie betroffen, in Österreich etwa 65.000 Personen. Die Patienten leiden an einer gestörten Erregbarkeit der Nervenzellen im Gehirn. Demnach ähneln die zeitgleichen Entladungen ganzer Nervenzellverbände einem "Gewitter im Gehirn" und führen zu den vielfältigen Formen von epileptischen Anfällen, die kurze Bewusstseinspausen bis schwere Muskelverkrampfungen umfassen können.

Bei der Entstehung der Erkrankung spielen unterschiedliche Auslöser eine Rolle. Neben Hirnschädigungen nach Unfällen, Infektionen oder anderen Einflüssen kann eine genetische Veranlagung die Ursache sein.

Viele Unbekannte

Forscher der Universitäten Tübingen, Bonn, Köln, Kiel, Luxemburg und Oslo wollen nun die Mechanismen genetisch bedingter Epilepsieformen klären. "In den letzten Jahren hat die Entdeckung neuer Gendefekte entscheidend dazu beigetragen, Krankheitsmechanismen zu entschlüsseln und erste personalisierte Therapieansätze zu ermöglichen", erklärt Studienleiter Holger Lerche vom Universitätsklinikum Tübingen.

Die meisten Genveränderungen, die zu Epilepsie führen, sind aber noch unbekannt. Ein gemeinsames Merkmal genetischer Epilepsien ist eine typische Altersabhängigkeit. Zwar können sie in jedem Alter auftreten, jedoch ist das Risiko für Kinder unter fünf Jahren besonders hoch. Zwei Drittel aller Patienten erkranken bis zum 20. Lebensjahr – danach sinkt das Risiko, bis es im höheren Lebensalter wieder ansteigt.

Drei Faktoren

"Das lässt vermuten, dass Entwicklungsfaktoren bei der Krankheitsentstehung von großer Bedeutung sind", so Lerche. Konkret wollen die Forscher nun die Hypothese prüfen, dass genetische Epilepsien auf einer Kombination von drei verschiedenen Faktoren beruht. "Zum einen haben wir es mit Genmutationen zu tun, die etwa Ionenkanäle in Nervenzellen beeinträchtigen und dadurch direkt die Erregbarkeit der Zellen verändern", sagt Lerche.

Daneben spielen die Entwicklungsfaktoren eine Rolle: "Während der Reifung des Gehirns im Säuglings- und Kindesalters werden Gene unterschiedlich stark ausgelesen. Manche von ihnen werden im Laufe der Zeit angeschaltet, andere aus. Ist dieser Prozess gestört, kann das zur Erkrankung führen", erklärt der Experte.

Ein dritter Faktor sind durch Genmutationen ausgelöste Prozesse, die etwa die Struktur von Nervenzellverbänden im Gehirn ändern und auf indirekte Weise die Entstehung von Epilepsie begünstigen. "Unser Ziel ist, die kritischen Zeitfenster der verschiedenen genetischen Epilepsieformen zu identifizieren, in denen wir therapeutisch eingreifen können. Darüber hinaus möchten wir maßgeschneiderte Therapien für die unterschiedlichen Gendefekte entwickeln", sagt Holger Lerche. (red, 4.10.2017)