Daniel T. ist einer der Guides der Vienna Shades Tours. Der Schweizer gibt aus der Sicht eines Betroffenen Einblick in den Alltag von obdachlosen Menschen in Wien.

Foto: Schilly

STANDARD-Video von einer Stadtführung mit den Obdachlosen Ferdinand und Alexander von dem Verein "Supertramps".

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Grafik: Vienna Shades

Wien – "Das klassische Bild eines Sandlers könnt ihr vergessen", sagt Daniel T. Der 54-Jährige weiß, wovon er spricht. Er lebte selbst auf der Straße und ist nun ein Guide der Vienna Shades Tours, bei der obdachlose Personen durch Wien führen. Es ist die Chance, ein paar Stunden lang Betroffenen zuzuhören, anstatt nur über sie zu sprechen, und von ihnen mehr über das österreichische Sozialsystem zu erfahren.

Das Bild von Obdachlosigkeit sei komplex, berichtet Daniel T., der von Freunden wegen Herkunft und Akzents nur "Schweizerlein" genannt wird. Betroffen seien mehr Menschen, als man ihnen ansieht, sagt er. In Sozialeinrichtungen habe er vom Bauarbeiter bis zur Staatsanwältin viele Berufsgruppen getroffen. Offizielle Zahlen sind aber rar. In Wien werden aktuell rund 10.000 obdachlose Personen betreut. Die Dunkelziffer soll laut Experten deutlich höher liegen.

Mit Tourismus gegen Armut

Sozialvoyeurismus soll bei den Touren vermieden werden. Vielmehr soll Tourismus als Instrument zur Beschäftigung – und in Folge als Reintegration in den Arbeitsmarkt – genutzt werden. "Man muss keinen Menschen mit offenen Wunden an den Beinen an seiner Schlafstelle aufstöbern, um zu illustrieren, dass bei jemandem, der den ganzen Tag unterwegs ist und nirgendwo eine saubere und trockene Umgebung hat, banale Dinge zu zentralen Themen werden können", sagt Perrine Schober, die Initiatorin von Shades Tours. Die 33-Jährige studierte Tourismusmanagement und spezialisierte sich auf Tourismus als Instrument der Armutsbekämpfung. 2015 brachte sie diesen Ansatz nach Wien.

Die Touren sichern den Guides ein Einkommen und sollen ihnen wieder Motivation und Selbstvertrauen geben. Denn das Stigma, dass obdachlose Menschen gar nicht arbeiten wollen, hafte zäh, sagt Schober. Wie viel die Guides über sich selbst erzählen wollen, entscheiden alleine sie.

Daniel T. berichtet offen über seine Geschichte, während er eine Gruppe von 14 Personen über den Stephansplatz bis hin zum Stadtpark lotst. Mit seiner Biografie will er zeigen, dass Obdachlosigkeit immer durch eine Kombination von Faktoren entsteht – und dass es fast jeden treffen kann. "Einen Stein hebe ich noch weg. Aber bei einem ganzen Haufen tu ich mir schwer", sagt der 54-Jährige.

Ein schwerer Unfall warf ihn aus der Bahn. Mit seinem Lokal ging es bergab, da er nicht mehr täglich selbst dort arbeitete. Zu finanziellen Schwierigkeiten kam eine Trennung. "Ich habe zugemacht, hatte keine Lust mehr, etwas zu tun", beschreibt er diesen Moment in seinem Leben. Es folgten zweieinhalb Jahre Obdachlosigkeit. Er nennt das zweite Weihnachten bei Minusgraden im Freien als jenen Punkt, an dem er wusste, dass er so nicht weitermachen will: "Man bekommt nur Hilfe, wenn man Hilfe annimmt. Auch ich war lange Zeit zu stolz."

In diesem Zusammenhang betont er das Kältetelefon in Wien, wodurch jedes Jahr Leben gerettet werden. Mobile Sozialeinrichtungen wie der Canisibus, mit dem jährlich 96.000 Teller Suppe verteilt werden, und die medizinische Versorgung im Louisebus der Caritas leisten ebenfalls lebenswichtige Arbeit. Eine weitere Anlaufstelle sind Streetworker. Tageszentren bieten Essen, Duschen und Kontakt zu psychologischer Hilfe. "Ich kenne keinen Obdachlosen, der kein psychisches Problem hat oder entwickelt hat", sagt der Schweizer. Bei ihm war es eine chronische Schlaflosigkeit. Über Jahre hinweg schlief er nicht mehr als drei oder vier Stunden am Stück. Viele obdachlose Menschen organisieren sich daher in Gruppen, um ein wenig Sicherheit zu verspüren. Denn auch Gewalt gehört zum Alltag: Ein Bekannter von Daniel T. sei nachts angezündet und dadurch sehr schwer verletzt worden.

Angebot für Schulklassen

Teilnehmer von Shades Tours können auch in Sozialeinrichtungen kochen: Hier wird vorab mit der Leitung abgeklärt, wann Besuch erwünscht ist, um die Privatsphäre der Bewohner zu wahren. Ein auf Schulen und unterschiedliche Altersstufen zugeschnittenes Programm werde gut angenommen, freut sich Schober.

Shades Tours nimmt zudem am Start-up-Programm Re:Wien von Oeko Business Wien und dem Impact Hub Vienna teil. Der Austausch mit großen Unternehmen und Mitarbeitern der Stadt Wien liefere neue Impulse, so Schober.

Sie kann bereits von Erfolgen berichten: Seit Januar 2016 haben es drei Guides in eine eigene Wohnung geschafft, einer hat wieder einen Job und einer lässt sich zum staatlich geprüften Fremdenführer ausbilden.

Auch Daniel T. versucht, wieder in der Gastronomie Fuß zu fassen. Er kocht etwa in der Gruft zwei, die ein Mutter-Kind-Heim beherbergt: "Letztens gab es Hühnerkeule mit Gemüse. Das ist motivierend, wenn man sieht, wie es den Kindern schmeckt und dass sie schon lang nicht mehr so etwas Gutes gegessen haben." (Julia Schilly, 5.10.2017)