Eine Welt, die nicht unsere ist, aber genauso aussieht. Sie lässt sich zum Beispiel mit einer Oculus Rift erzeugen. Die Datenbrille sieht mit ihrem blickumspannenden Display ein wenig aus wie eine futuristische Taucherbrille. Angeschlossen an einen Computer und verbunden mit einer entsprechenden Anwendung, schickt sie einen tatsächlich unter Wasser. Dort kann sich umsehen, als würde man tatsächlich im Meer tauchen. Die Technologie reagiert, wenn man sich nach vorne beugt, nach links dreht oder nach rechts. Über einem schwimmen Fische und Schildkröten. Plötzlich taucht ein riesiger Wal auf. Alles täuschend echt.

Die Datenbrille gibt einen Eindruck davon, was künftig vielleicht gleichwertig neben haptische Erfahrungen treten könnte: die virtuelle Realität (VR). Viele vermuten, dass diese und ähnliche Technologien die Gesellschaft und das Zusammenleben grundlegend verändern werden. Wann und wie genau, damit beschäftigt sich Matthias Husinsky an der Fachhochschule St. Pölten. Der Leiter der Meisterklasse Augmented und Virtual Reality ist überzeugt: "In zehn Jahren werden diese Technologien eine ähnlich wichtige Rolle spielen wie jetzt Computer oder Smartphones."

Diverse Prognosen geben ihm recht. Die Investmentbank Goldman Sachs rechnet etwa damit, dass bis zum Jahr 2021 circa 80 Milliarden US-Dollar jährlicher Umsatz in diesem Bereich erzielt werden, was jenem der PCs heute entsprechen würde.

Informationen werden erfahrbar

Unternehmen wenden die virtuelle Realität bereits fleißig für Werbezwecke an. Ebay beispielsweise eröffnete 2016 seinen ersten VR-Store und machte somit das Shoppen in der virtuellen Welt möglich. Die Lego-"Digital Box" zeigt schon im Geschäft, was sich aus den Steinen bauen lässt: Ein Scan des Kartons genügt, und das fertige Objekt erscheint in 3D. Das Möbelhaus Ikea lockt Kunden mit der "Virtual Home Experience": Mit einer speziellen Brille können sie sich durch ihr Wohnzimmer bewegen, im digitalen Raum Wandfarben verändern, Möbel umstellen, dabei diverse Perspektiven einnehmen. In der virtuellen Welt können Touristen sich in dem Gebiet umsehen, in das sie reisen wollen. Interessenten für eine Wohnung können ihr künftiges Heim besichtigen, noch bevor es überhaupt gebaut wurde.

"Virtual Home Experience": Das Möbelhaus Ikea will Kunden nun auch in der virtuellen Welt zum Kaufen bewegen.
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In der Medizin wird VR bereits für zahlreiche Therapien eingesetzt, von posttraumatischem Stress bis hin zur Behandlung von Phobien.

Aber auch für die Bildung sehen Experten Potenzial. VR könne dort viele Vorteile bringen. Die Rolle des Lernenden wäre beispielsweise keine passive mehr. Virtual Reality mache Information außerdem erlebbar, erfahrbar und dadurch schließlich leichter merkbar. Ralph Müller-Eiselt, Co-Autor des Buches "Die digitale Bildungsrevolution", sagt: "Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, dass man sich durch Tun viel besser erinnert als durch bloßes Zuhören oder Lesen." Durch das Spielerische lerne man auch motivierter. Schließlich ermögliche Technologie auch personalisiertes Lernen, "weil sich die Lerninhalte an den Lernenden anpassen", sagt Müller-Eiselt.

In der virtuellen Welt können Probleme zudem unkompliziert simuliert und Lernende so auf den Ernstfall vorbereitet werden. Fluglinien setzen Datenbrillen schon bei der Pilotenausbildung ein. Auch angehende Ärzte können mittlerweile an virtuellen Patienten üben.

Auf nach Machu Picchu

Die speziellen Brillen sind nur eine Möglichkeit, virtuelle Realitäten zu erzeugen. "Die Technologie hat gerade in der letzten Zeit einen enormen Sprung gemacht", sagt VR-Experte Husinsky. Sogar das Smartphone kann mittlerweile dazu verwendet werden, VR zu erzeugen. Das macht sich der Tech-Riese Google für ein Schulprojekt, das "Expeditions Pioneer Program", zunutze. Schülern wird ein Pappgestell in die Hand gedrückt, mit dem sie ihr Smartphone in eine Datenbrille verwandeln können – um damit virtuelle Ausflüge zu unternehmen, etwa in den Buckingham-Palast oder nach Machu Picchu. Hier sieht Lernexperte Müller-Eiselt übrigens einen weiteren Vorteil: Mit der Technologie sieht man Orte, an die man live vielleicht nicht gelangen würde.

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Mit den Datenbrillen kann man völlig in eine Parallelrealität abtauchen. Das kann süchtig machen – und das wieder Eingewöhnen in die echte Welt mitunter schwer.
Foto: Getty Images

Anders als im Kino oder im Theater – wo die Leinwand, die Bühne stets sichtbar bleiben – steigt man in die virtuelle Realität komplett ein. Der Grad an "Immersion", wie es im Fachjargon heißt, ist hier besonders hoch. Immersion ist ein metaphorischer Begriff, abgeleitet von der physikalischen Erfahrung des Eintauchens in Wasser, wie die US-amerikanische Professorin für digitale Medien, Janet Murray, schreibt. Das kann süchtig machen. "Wir suchen nach demselben Gefühl einer psychologisch immersiven Erfahrung, wie wir sie von einem Sprung ins Meer oder in den Swimming Pool erwarten: das Gefühl, von einer vollständig anderen Realität umgeben zu sein, so unterschiedlich, wie sich das Wasser zur Luft verhält, die unsere gesamte Aufmerksamkeit auf sich zieht, unseren gesamten Wahrnehmungsapparat."

Technologie für den Alltag

Und neben der Suchtgefahr birgt die virtuelle Realität hier noch ein weiteres Risiko: Wer in sie eintaucht, muss sich nach dem Auftauchen erst wieder in der echten Welt eingewöhnen. Ein Experiment der Stanford University zeigt etwa, dass Kinder im Nachhinein oft nicht mehr in der Lage sind, eine virtuelle Erfahrung von einer echten zu unterscheiden. Umfassende Forschungen dazu, wie sich virtuelle Realität auf die Wahrnehmung auswirkt, sind aber noch ausständig.

Als weiteres mögliches Problem wird jedenfalls die "Cyber-Sickness" genannt: Den einen oder anderen Nutzer überkommen bei Ausflügen in die virtuelle Welt Schwindel und Übelkeit, weil die visuelle Wahrnehmung nicht mit dem Gleichgewichtssinn synchron ist.

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Bekannt ist das Prinzip Augmented Reality aus dem Spiel Pokémon Go. Im Gegensatz zur Virtual Reality werden hier keine komplett neuen Welten erschaffen, sondern nur einzelne virtuelle Elemente in die echte Welt projiziert.
Foto: AP/Kin Cheung

In Bezug auf Bildungszwecke sieht Experte Müller-Eiselt daher vor allem die "Augmented Reality", die "erweiterte Realität", als gewinnbringend. Im Gegensatz zur Virtual Reality werden hier keine komplett neuen Welten erschaffen, sondern nur einzelne virtuelle Elemente in die echte Welt projiziert. Bekannt ist das Prinzip vielen wohl durch das Spiel "Pokémon Go": Eine Zeichentrickfigur erscheint vor einem auf der Straße. Auch die Funktion "Lenses" auf Snapchat, mit der man sich diverse Masken ins Gesicht projizieren kann, sind einfache Beispiele für Augmented Reality (AR).

Matthias Husinsky von der FH St. Pölten ist der Meinung, dass Augmented Reality schon in ein paar Jahren "eine Alltags- und Massentechnologie wird". Warum sie das jetzt noch nicht ist? Momentan seien die Gerätschaften, mit denen man die erweiterte Realität erzeugt, noch sehr "klobig" – die spektakulärsten Effekte ließen sich mit holografischen Brillen wie der Microsoft Hololens erzeugen. "Die Hersteller arbeiten jedoch intensiv daran, dass sie klein und unauffällig werden."

Freier Blick auf Herz und Lunge

Aber wie lässt sich AR nun für das Lernen nutzen? Indem beispielsweise per App Informationen über die Umwelt abgerufen werden können. Der Name des nächsten Berggipfels, eines historischen Gebäudes oder die der Sterne am Nachthimmel. "Und beim Waldspaziergang ist der gerade entdeckte Specht dann nicht mehr nur irgendein Vogel", benennt Ralph Müller-Eiselt die Vorteile für das tagtägliche Lernen.

So funktioniert die Epson-Moverio.
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Speziell für den kommerziellen Einsatz in Museen und Kultureinrichtungen hat Epson die Augmented-Reality-Brille Moverio entwickelt. Sie erkennt Ausstellungsobjekte automatisch und blendet dazu zusätzliche Infos in das Blickfeld des Nutzers ein. Sie kann Hintergrundinformationen über Kunstwerke und ihre Schöpfer geben. Ein schon lang ausgestorbener Saurier kann damit virtuell auferstehen. Im Kino und Theater versorgt sie die Besucher mit Untertiteln.

Neben diesem praktischen Nutzen könnte AR auch dazu dienen, "das Unsichtbare sichtbar zu machen", sagt Husinsky. Etwa Anatomie könne visualisiert werden. Das Start-up Curiscope brachte eine Möglichkeit hervor, eine virtuelle Reise durch den Körper zu unternehmen. Auf einem T-Shirt ist ein virtueller Code gedruckt – sobald man das Smartphone oder Tablet darauf richtet, hat man freie Sicht auf Herz, Lunge und Co.

Wenige Nachweise

"Auch Prozesse könnten so ausgezeichnet veranschaulicht werden", sagt Husinky, der an der Fachhochschule mit Unternehmen kooperiert, die entsprechende Anwendungen einsetzen. "Die Industrie ist ein Early Adopter." Thyssen-Krupp etwa nutzt die Hololens von Microsoft, um Aufzüge zu reparieren. Für Monteure können die speziellen Brillen mit den transparenten Gläsern – die ähnlich aussehen wie eine zu große Fahrradbrille – etwa die Reparaturanleitung für die jeweilige Maschine einblenden. "Man setzt ihm eine Brille auf, die ihm anzeigt, an welcher Schraube er drehen und welchen Schalter er drücken muss", sagt Husinsky. Auch virtuelle Schulungen können von jedem Ort aus gemacht werden, das spart Zeit und Geld.

Ein weiterer Grund, warum die neuen Technologien noch nicht in Klassenzimmern und Hörsälen eingesetzt werden: Weil sie momentan noch zu teuer seien und ihr Nutzen noch nicht ausreichend durch Studien nachgewiesen worden sei, sagt Müller-Eiselt.

Die Smartphone-App "Areeka" projiziert mittels Smartphone 3D-Animationen direkt auf das Schulbuch.
Foto: Lisa Breit

Buch als Lerntool Nummer eins

Schon in einigen Jahren könnte das anders sein. An vielen Hochschulen gibt es bereits einschlägige Forschungsprojekte. Zum Einsatz von AR in Klassenzimmern hat die EU-Kommission ein Forschungsprojekt gestartet. Entwickelt wird ein als "Spinnstube" bezeichnetes Cyberpult, das mit einem Displaysystem für 3D-Darstellungen und AR-Informationen ausgestattet ist.

Dass Zeit und Mühe in die Entwicklung der Zukunftstechnologien gesteckt werden, hält Müller-Eiselt für wichtig. Denn nur gewissenhaft entwickelt und richtig eingesetzt könnten sie überhaupt einen Mehrwert bieten. Jedenfalls dürften die Technologien keinesfalls als die "Wundermittel" in der Bildung gesehen werden, da sind sich Husinsky und Müller-Eiselt einig. Die Experten sehen sie nicht als Ersatz, mehr als Ergänzung zum analogen Lernen.

Wann alle Lernenden futuristische Datenbrillen tragen werden, mit denen sie etwa zum Meeresgrund abtauchen können, bleibt damit unklar. Und das Buch zumindest vorerst noch Lerntool Nummer eins. Allerdings: Auch Smartphone-Apps, die gedruckte Abbildungen scannen und virtuell animieren, gibt es bereits. (Lisa Breit, 9.11.2017)