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Yasmina Reza und ihr Schriftstellerkollege ...

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... Michel Houellebecq zählen zu den Superstars der französischen Literaturszene.

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Iris Radisch gibt in ihrem Sachbuch einen chronologischen Überblick, auch über das äußerst lebendige Kapitel der neuesten französischen Literatur.

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Privat optimistisch und noch immer voller Lebensfreude. Öffentlich dagegen melancholisch bis depressiv. So ist Frankreich. Ist so Frankreich?

Dieser "Hiatus", dieser Spalt, wie es der Journalist Joseph Hanimann nennt, viele Jahre lang Frankreich-Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und mittlerweile der Süddeutschen Zeitung, steht im Zentrum seines informativen Buchs. Unter die Lupe nimmt der Schweizer den reklamierten Ausnahmestatus der "Grande Nation" und die Intellektuellen, die Rolle der Familie und die Frauenpolitik, den Raum und den Zentralismus, den Elitegedanken und die linguistische Höflichkeit. Aufbruch? Stillstand? Revolte oder Erstarrung im Gestrigen? Klug dividiert Hanimann dieses Gespinst aus Mentalität und Monetarismus, Esprit und Weltabgewandtheit auseinander.

Nils Minkmar, Jahrgang 1966, um 14 Jahre jünger als Hanimann und Journalist beim Spiegel, geht das Thema leichter an. Im Gegensatz zum Protestanten aus Chur spielt beim Saarländer und Sohn einer Französin der Genuss eine große Rolle.

Ein Kapitel widmet er zur Gänze Kochen und Essen und der jüngst zu beobachtenden Entwicklung, dass sich immer mehr Franzosen das bis dato gewohnte gastronomische Niveau finanziell nicht mehr leisten können. Er nimmt, etwas feuilletonistisch, die Einsamkeit des Präsidenten in den Blick. Und porträtiert, etwas unkritisch, nicht nur den flamboyanten Intellektuellen Bernard-Henri Lévy (den Hanimann als "Kriegstreiber" abtut), sondern auch eine Philosophin und eine Kunsthistorikerin, die jüngste, gänzlich andere Generation von "Meisterdenkern". Gekonnt streut er persönliche Erinnerungen ein, an den Großvater, an Familientreffen, an die Sommerurlaube in der Nähe von Bordeaux.

Von enormer Wucht

Von enormer Wucht, da mit Furor und wilder Verve geschrieben, ist Philippe Pujols Porträt von Marseille. Die Erschaffung des Monsters gehört in eine Reihe mit den besten Stadtbüchern, die in den letzten Jahren erschienen sind, Ben Judahs This is London, Iain Sinclairs London Overground und Rana Dasguptas Delhi.

Marseille hat sich in den letzten Jahren herausgeputzt. Die Umgebung des Vieux Port, des Alten Hafens, wurde verkehrsberuhigt. Als Marseille 2013 Europäische Kulturhauptstadt war, entstand dort zudem das Mucem, das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers.

Erstaunlich ist aber, dass man nur wenige Minuten vom Vieux Port entfernt durch Straßen mit maghrebinischer Anmutung läuft, auf die Bürgerhäuser folgen, dann abgeschottete Hotels mit atemberaubendem Meerblick. Westlich vom Hafenbecken hingegen kann man noch Spurenelemente der Atmosphäre der 1930er-Jahre finden, alte Bars. Die Canebière bis an ihr Nordende gehen nur selten Touristen. Denn gleich am Rand des Zentrums stehen die ärmsten Sozialbauten ganz Frankreichs. Und den Kulturanspruch überschatten weiterhin Schlagzeilen über Marseille als Hotspot der Kriminalität.

Hinter diese Schlagzeilen taucht Philippe Pujol (42), Lokalreporter bei der Zeitung La Marseillaise. Eben weil er seine Geburts- und Heimatstadt so sehr liebt, beobachtet er so scharf. Er beschreibt ein ganz anderes Marseille. Euphemismen wie "sozialer Brennpunkt" oder "sozial abgehängt" demontiert er.

Er geht nämlich tatsächlich in Abbruchwohnungen und hängt mit minderjährigen Kleinstdealern ab, die mit allem Möglichem und Unmöglichem, selbst mit Reifengummi, Drogen strecken und deren Zukunftshorizont von Mittag bis zum Abend reicht. Er beschreibt Frauen, deren Sohn und Ehemann erschossen wurden, ihr Elend, ihre Armut, ihre Hoffnungslosigkeit.

Mit ätzendem Sarkasmus seziert er den seit Generationen praktizierten Nepotismus der Stadt, der sich unübersehbar im Bauwesen manifestiert – rein zufällig kommen immer wieder dieselben Architekten zum Zuge -, die systematische Korruption, die trägen, ineffektiven Verwaltungsmaßnahmen und die Ratlosigkeit von Polizei und Präfektur, die nur noch mit repressiver Härte agieren. Und doch ist es eine Liebeserklärung.

Denn Pujol zeigt umgekehrt auf, was alles viel besser, sinnvoller, zielgerichteter sein könnte. Am Ende vermag er sogar Optimismus einzuflößen.

Ähnlich temperamentvoll schreibt der französische Schriftsteller Sylvain Tesson. Der Weltreisende war 2014 von einem Hausdach acht Meter in die Tiefe gestürzt und lag monatelang im Spital. Damals schwor er sich: Wenn er wieder auf die Beine käme, dann würde er Frankreich durchwandern, das Land, das er weniger gut kannte als Sibirien, Tibet oder Nepal.

Frankreich durchwandern

So machte er sich am 24. August 2014 auf den Weg. Und zwar auf den Strecken, die eine Karte des französischen Ministeriums für Wohnen und Regionalentwicklung vorgab, in der "hyperländliche", will heißen: rückständige, Regionen markiert sind. Er startete in Mercantour an der französisch-italienischen Grenze, ging nach Westen, schlug sich nach Norden durch das Zentralmassiv bis zur Halbinsel Contentin in der Normandie durch, die er am 8. November erreichte.

Es ist ein oft witziger, dabei zorniger und immer wieder auch sardonischer Rapport. Denn Tesson, der auf seinem Wanderweg durch la France profonde regelmäßig im Freien übernachtet und durch fast oder bereits ganz aufgelassene Dörfer und Weiler kommt, schreibt sich in Rage ob Gleichmacherei und technokratischer Dummheiten, angesichts der Nivellierung alter regionaler Unterschiede und der teils brutalen, stets gedankenlosen Zerstörung der Landschaft und wechselnder Landschaften, der Vernichtung von Abseitigkeit, Kargheit und dem Leben im Abseits. – Eine schöne, bisher nicht ins Deutsche übersetzte Ergänzung ist übrigens Jean-Claude Kauffmanns soziologisches Entdeckerbuch Remonter la Marne, eine Wanderung entlang der Marne.

Auch Jean-Christophe Bailly absolvierte vom Frühjahr 2008 bis zum Herbst 2010 eine "Tour de France". Fremd gewordenes Land, 2011 in Frankreich erschienen und gleich mit einem Preis ausgezeichnet, erscheint erst jetzt auf Deutsch, in einer ganz anderen Zeit.

Der 1949 in Paris geborene Essayist, Zeitschriftenredakteur und Herausgeber ist ein Publizist, der hierzulande gänzlich unbekannt ist. Seine Prosa ist dicht, manchmal überladen und verwickelt, was nicht nur an der Übersetzung liegt.

Bailly nimmt sich ausnehmend viel Zeit für seine kulturgeografischen, poetischen, künstlerischen und landschaftsessayistischen Tiefenbohrungen. Es sind Orte, Monumente, Artefakte und Ruinen – Letztere auch als intellektuelle Varianten -, die seine Aufmerksamkeit erregen und die er um- und umdreht. Nicht selten mutet die Hartnäckigkeit, mit der Bailly über manches Abgelegene meditiert, überzogen an, vor allem für ein nichtfranzösisches Publikum.

Epochensedimente

Ein Bataillon mal mehr, mal weniger bekannter großer und gelehrter Namen lässt er Revue passieren. Immer wieder gelingen ihm feine Schilderungen jener Momente, in denen er sich "wie ein Gestrandeter" fühlt, wie ein Fremder im eigenen Land.

Bailly ist ein bewusst langsam Reisender. So scheut er das Auto, fährt mit der Bahn oder geht zu Fuß. Abgelegen-verwunschene Ortschaften an der Loire erkundet er ebenso wie Pariser Banlieues. Tief von Geschichte durchzogen, ja imprägniert erweist sich das "Hexagone" hier: "Aber es ist wie in den Träumen: Die Epochen durchdringen sich und koexistieren in ein und derselben Landschaft." Und diese so vielgestaltige, faszinierende Landschaft mit den vielen Epochensedimenten, das ist, parbleu, la France. Allez! (Alexander Kluy, Album, 7.10.2017)