Harun Farocki schreibt in seiner posthum veröffentlichten Autobiografie über das Berlin der 1960er-Jahre – und etwa davon, wie ihm Konrad Bayer einen ersten Job beim Radio verschaffte.

Foto: Hertha Hurnaus

Drei Jahre sind seit dem unerwarteten Tod des Künstlers und Filmemachers Harun Farocki im Juli 2014 vergangen. Drei Jahre, die von seinen Freunden und Nachlassverwaltern intensiv genutzt wurden, wie man in diesem Herbst an einer Fülle von Veranstaltungen in Berlin sehen kann: Neben Ausstellungen im Neuen Berliner Kunstverein und bei seiner langjährigen Galeristin Barbara Weiss fällt vor allem bei der Filmretrospektive im Kino Arsenal auf, dass das Werk von Farocki in vielerlei Hinsicht erst jetzt allmählich als einigermaßen vollständig erschlossen betrachtet werden kann.

Dass immer noch neue Arbeiten auftauchen, und manche, die von ihm selbst nicht mehr für voll genommen worden waren, nun besonderes Interesse erfahren, das gehört zu der Arbeit, der sich das nach dem Tod gegründete Harun-Farocki-Institut widmet.

Mit einem Fund hatte aber außerhalb des engsten Kreises wohl niemand gerechnet. Farocki hinterließ einen autobiografischen Text, der nun als der erste Band einer Ausgabe seiner Schriften vorliegt: Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig. Fragment einer Autobiographie (Verlag der Buchhandlung Walther König, 208 Seiten). Man kannte ihn als einen klugen, auch gewitzten analytischen Autor von Texten, die man alle im weiteren Sinn einer kritischen Theorie des Kinos zuschreiben könnte, wobei er die Theorie immer aus konkreten Auseinandersetzungen mit Filmen oder Phänomenen heraus entwickelte. Hier nun aber zeigt er sich als genuiner Erzähler, beruhend auf einer Beobachtungsgabe und einem Erinnerungsvermögen, das keinen Vergleich mit großen Beispielen der Gattung Autobiografie scheuen muss.

Dichte Assoziationsarbeit

Für die Bundesrepublik Deutschland ist Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig ein Schlüsseltext, denn hier erzählt jemand eine Modernisierungsgeschichte, die niemals in einen triumphalistischen Gestus umschlägt (zumal der Text nicht bis an die Gegenwart herangeschrieben werden konnte), sondern getragen ist von einem Staunen über das, was aus einem eher ratlosen Ausreißer, der in den frühen 1960er-Jahren von Hamburg nach Berlin kam, einmal werden sollte: einer der erfolgreichsten Künstler des 21. Jahrhunderts.

Farocki geht jeweils von einem runden Geburtstag aus und erzählt dann eher assoziativ von den Jahren drumherum. Die Assoziationsarbeit ist allerdings ungeheuer dicht, und wenn man bedenkt, dass der Text nicht von ihm für eine Veröffentlichung vorbereitet werden könnte, überrascht umso mehr, wie subtil und präzise er mit Motiven umgeht, und wie beiläufig er immer wieder zu brillanten Reflexionen gelangt. Die gespannte Beziehung zu seinem Vater, einem aus Indien stammenden Arzt, lässt ihn früh die Familie verlassen.

Für das Berlin der 1960er-Jahre (also vor der Studentenbewegung, die er mit ihren zentralen Ereignissen sogar eher umgeht, obwohl er damals zentral involviert war) ist Farockis Buch eine herausragende Quelle.

Großartig zum Beispiel, wie er davon erzählt, dass der Dichter Konrad Bayer ihm einen Zugang zum Sender Freies Berlin verschaffte – für den de facto obdachlosen jungen Mann ohne "Lebensführerschein" wird daraus eine erste Idee von Produktivität. Zuerst muss er aber erst einmal ein Pförtnerproblem lösen.

Auch für eine Geschichte der Linken in Deutschland wird man viel finden, mit all den Umschwüngen, die zum Beispiel dazu führten, dass viele langhaarige Studenten nach 1968 zum Friseur gingen, aus einer Art von Solidarität mit Arbeitern, die für ungepflegten Habitus nichts übrighatten. Gegen den Mythos einer sexuellen Revolution beschreibt Farocki eine linke "Verlegenheit" gegenüber dem Liebesleben, die auch ihm zu schaffen machte.

Wenn man nach einem Begriff suchen wollte, der das Buch ein wenig zusammenfasst, dann wäre das vielleicht sogar diese "Verlegenheit", aus der Farocki sich immer wieder zu befreien wusste, die aber wohl seinen Weg ins Leben insgesamt prägte und der vor allem durch intensive, niemals dogmatische intellektuelle Arbeit beizukommen war. (Bert Rebhandl aus Berlin, 7.10.2017)