Kapfenberg – "Simmering gegen Kapfenberg, das nenn' ich Brutalität": Mit diesem Satz hat Helmut Qualtinger als Kunstfigur "Travnicek" die Industriestadt in der Obersteiermark kabarettistisch verewigt. Er geht zurück auf ein legendäres Auswärtsspiel, das die Kapfenberger Sportvereinigung am 12. Oktober 1958 in Simmering bestritt.

Redfeld ist – neben dem Werk VI – das wichtigste Industrieviertel Kapfenbergs. Hier hat die Firma Böhler ihren Sitz, und hier ist auch Peter Pilz groß geworden. Sein Vater war "Böhlerianer".
Foto: Katrin Burgstaller

Der Stürmer der Kapfenberger, Helmut "Haube" Hauberger, erzielte damals in der ersten Spielhälfte das 1:0. In der letzten Spielminute stieß "Haube" mit dem Simmeringer Tormann Bruno Englmeier zusammen. Hauberger, dessen Eltern übrigens im Widerstand tätig waren, blieb mit einem offenen Schienbeinbruch am Spielfeld liegen und musste schließlich seine Fußballerkarriere beenden.

Siebelt Meents

Pilz gegen Grüne

Aus diesem Kapfenberg stammt Peter Pilz. Der langjährige Abgeordnete der Grünen gab im Sommer bekannt, dass er bei der Nationalratswahl mit seiner eigenen Liste antreten wird, nachdem er bei der Listenwahl der Grünen vergeblich um den vierten Platz gerittert hatte.

Wie brutal Politik sein kann, erleben derzeit die Grünen, die – schenkt man den Umfragen Glauben – um den Einzug ins Parlament zittern müssen. Pilz, der sich als Korruptionsjäger bei den Grünen einen Namen gemacht hat, könnte viele grüne Stimmen abziehen. Für ihn selbst ist ein Sitz im Parlament allerdings noch weniger eine "gmahte Wiesn".

Die Metallindustrie machte die Obersteiermark in den 1970er-Jahren zur reichsten Region Österreichs. Heute freut sich die Bevölkerung über ein neues Werk der Voest.
Foto: Katrin Burgstaller

Böhlerianer vom Redfeld

Als sich das legendäre Spiel in Simmering zutrug, war Peter Pilz vier Jahre alt. Sein Vater Oswald war als Werkschullehrer nach Kapfenberg gekommen, Mutter Hedwig war Postlerin. Bei der Firma Böhler war Pilz' Vater später Betriebsratsobmann der Angestellten. Er stamme aus einer hochpolitischen sozialdemokratischen und Gewerkschafterfamilie, in der viel über Politik, Kunst und das Schwammerlsuchen gesprochen wurde, erzählte Pilz dem STANDARD. Sein Mitstreiter Peter Vogl, der sich vor zehn Jahren von den Kapfenberger Grünen abgespaltet hat und seither mit einer eigenen Liste im Gemeinderat sitzt, ergänzt im Gespräch mit dem STANDARD, dass Pilz' Vater einst SPÖ-Vizebürgermeister in Kapfenberg war und einen wesentlichen Teil zur Entnazifizierung der Sozialdemokratie in der Obersteiermark beigetragen habe.

Wie viele "Böhlerianer" hat auch Pilz in der Arbeitersiedlung, in der Albert-Böhler-Gasse in Redfeld, gewohnt. "Dort war ich Mitglied einer Jugendbande. Wir haben Abwehrschlachten gegen die Friedhofsbande geführt", hat er dem STANDARD verraten.

Als Jugendlicher hat Pilz dann am eigenen Leib erfahren, was es heißt, "in der Bude" zu arbeiten, nämlich als Ferialpraktikant bei Böhler. Damals war es im Werk noch weit verbreitet, dass bei der Schwerstarbeit nicht nur am Hochofen Bier in rauen Mengen getrunken wurde – vorzugsweise übrigens Gösser, das im knapp 30 Kilometer entfernten Leoben gebraut wird.

Ehemals verstaatlichte Industrie

Mit 18, gleich nach der Matura, verließ Pilz "diesen schönen Ort", um übrigens heute noch regelmäßig in seine Huam, einen alten Bauernhof in St. Katharein an der Laming, zurückzukehren. Hier in der Nähe liegt der Grüne See, das steirische Atlantis, von dem Hollywood-Schauspieler Aston Kutcher einmal in einem Facebook-Beitrag geschwärmt hat.

Der Alltag in der Industrieregion ist allerdings alles andere als glamourös. Während in den 70er-Jahren in der Mur-Mürz-Furche noch jeder Dritte in der verstaatlichten Industrie tätig war, wurden zwischen 1971 und 1991 die Arbeitsplätze bei Böhler von 11.400 auf 3.900 reduziert, bei den Voestalpine-Betrieben von 16.500 auf 6.400 und am Erzberg von 4.000 auf 300, schreibt Michael Steiner, Professor für Volkswirtschaft an der Uni Graz, in seinem Buch über Österreichs Bundesländer.

In der "Böhler-Villa" hat Modedesignerin Eva Summer-Nussmüller eine Edeltrachtenboutique eröffnet. Demnächst zieht sie mit Mann und Tochter nach Graz.

In den 60er- und 70er-Jahren war die Obersteiermark die reichste Region Österreichs. Noch heute ist "der Böhler" jenes Unternehmen, das in Kapfenberg mit Abstand die meisten Arbeitsplätze zur Verfügung stellt. Ein Blick in die Stellenangebot des Unternehmens zeigt: In dem Stahlkonzern von Weltrang lässt sich gutes Geld verdienen. Ein Produktmananger bekommt etwa 3.160 Euro Minimum gemäß Kollektivvertrag. Die guten Jobs hier werden in absehbarer Zeit nicht ausgehen. Im September gab der Stahlkonzern Voestalpine bekannt, dass in Kapfenberg ein neues Edelstahlwerk errichtet wird. Zwischen 2019 und 2021 fließen 330 bis 350 Millionen Euro in das Vorhaben

Während die Hightech-Stahlindustrie in der Region floriert, sind im Dienstleistungssektor vergleichsweise wenige Jobs zu finden. Die Stadtgemeinde Kapfenberg zählt mit etwa 180 Angestellten hier zu den größten Arbeitgebern. Etwa ein Drittel der Erwerbstätigen im Bezirk Bruck-Mürzzuschlag gehen einer Erwerbstätigkeit außerhalb des Bezirks nach.

Männerüberschuss bei den Jungen

Im Bezirk lebten im Jänner 2017 etwas mehr Frauen (50.951) als Männer (48.883). Ein Blick auf die Statistik sagt, dass allerdings auch deutlich mehr Frauen als Männer abwandern. 8.398 Männern im Alter von 20 bis 34 Jahren standen nur 7.612 Frauen aus dieser Altersgruppe gegenüber. Volkswirtschaftler Steiner konstatiert im Gespräch mit dem STANDARD: "Die Spirale wird sich nach unten drehen. Gibt es weniger Frauen, wird es auch immer weniger Kinder geben." In weiterer Folge würden auch immer mehr junge Männer wegziehen.

Mehr als "nur auf den Berg gehen"

DER STANDARD

Der Industriestadt den Rücken kehren wird demnächst auch die Modedesignerin Eva Summer-Nussmüller. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie die ehemalige Böhler-Villa in Redfeld gegenüber dem Böhler-Werk erstanden und renoviert. Hier untergebracht ist ihre Boutique, in der sie Edeltrachtenkleidung ihrer eigenen Marke Austria Imperial verkauft. Bei 269 Euro kommt man mit der Designerin ins Geschäft, will man etwa einen Trachtenrock erstehen.

Summer-Nussmüller stammt aus der Region und wird Kapfenberg demnächst den Rücken kehren und nach Graz ziehen. "Mein Leben besteht nicht nur darin, auf den Berg zu gehen", beklagt Summer-Nussmüller, die sowohl ausreichend Kindergartenplätze im Sommer als auch leistungsorientierte Schulen vermisst. In Graz werde die Tochter in einer ausgesuchte öffentliche Volksschule gehen. Theater, Oper, Weiterbildungsmöglichkeiten und Kontakt mit Gleichgesinnten, all das vermisst die 42-Jährige hier.

Maroni in Kapfenberg

Hier geblieben ist Jeret, er kommt aus dem 2.300 Einwohner zählenden Ort Thörl nördlich von Kapfenberg. Jeret ist ein gebürtiger Obersteirer, seine Eltern sind "der Franz und die Renate". Wie so viele Burschen hier in der Mur-Mürz-Furche hat auch er eine Lehre im Metallbereich gemacht, einfach weil das aufgrund der Angebote am Arbeitsmarkt das Naheliegendste war.

Jeret ist eigentlich ausgebildeter Zerspanungstechniker. Heute brät er für die Kapfenberger Maroni.
Foto: Katrin Burgstaller

Jeret ist ausgebildeter Zerspanungstechniker. Früher sagte man Dreher und Fräser dazu. Den erlernte Beruf will Jeret aber nicht ausführen, deshalb schlägt sich der 25-Jährige mit Saisonjobs durch. Im Sommer war er Bademeister, und jetzt, zur kalten Jahreszeit, brät und verkauft er Maroni in Kapfenberg. Was Jeret in Zukunft machen will? Im Sommer als Bademeister arbeiten und im Winter Maroni braten in Kapfenberg. (Katrin Burgstaller, 11.10.2017)