Der Geschäftsführer der Rudolf-Steiner-Schule in Wien-Mauer, Engelbert Sperl.

Foto: Jürg Christandl

1927 wurde in Wien die erste Waldorfschule Österreichs gegründet. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten wurde sie wieder geschlossen und deren Tätigkeit 1938 verboten. Erst 20 Jahre nach Kriegsende wurde ein neuer Anlauf genommen, zuerst im Erdgeschoß einer Volksschule, 1968 wurde dann die Rudolf-Steiner-Schule in Wien-Mauer gegründet. Mit den 70er-Jahren begann die Etablierung der Waldorfpädagogik. Heute besuchen rund 3.000 Schüler eine der 18 Waldorfschulen in ganz Österreich. Engelbert Sperl, Geschäftsführer der Rudolf-Steiner-Schule in Mauer, spricht über pädagogische Veränderungen, Herausforderungen und Pläne für die nächsten 90 Jahre.

STANDARD: Vor 90 Jahren wurde die erste Waldorfschule eröffnet. Entwickelt wurde dieser pädagogische Ansatz von Rudolf Steiner. Wie viel davon findet sich noch in der Waldorfpädagogik, was hat sich in den vergangenen 90 Jahren verändert?

Sperl: Im Lauf der Jahre hat sich sehr vieles verändert. Die Rolle der Eltern, auch die Kinder haben sich verändert. Die Herausforderungen für die Pädagogik sind andere geworden. An den Waldorfschulen versucht man natürlich die Schwerpunkte, die damals im pädagogischen Kurs von Rudolf Steiner festgelegt worden sind, modifiziert und verändert beizubehalten. Früher war es zum Beispiel im Kindergarten ganz klar, dass das Kind von acht Uhr bis mittags im Kindergarten ist. Jetzt gibt es ganztägige Betreuung bereits in der Kleinkindergruppe, auch die Schule ist eine Ganztagsschule. Das war früher unmöglich. Es war ganz klar, dass das Kind eine intakte Familie braucht und zu Mittag nach Hause geht.

Heute sind die Herausforderungen bei Kindern ganz unterschiedlich. Von Alleinerzieherinnen bis hin zu Patchwork-Familien – das sind ganz andere Voraussetzungen. Auch der didaktische Fokus hat sich geändert. Es gibt jetzt immer mehr Kinder, die eine andere Aufmerksamkeit, eine andere Konzentriertheit brauchen. Nachdem wir freifinanziert sind, bräuchten wir mehr pädagogisches Personal, um den Spagat, was wir uns leisten können und was für die Kinder gut ist, auch möglichst gut machen zu können. Ebenfalls neu hinzugekommen ist, dass wir als Alternativschule immer häufiger Schüler aufnehmen, die im normalen Schulsystem gescheitert sind. Und zu 90 Prozent können wir diese Schüler auch wirklich zur Matura zu bringen.

STANDARD: Viele Elemente der Waldorfpädagogik finden sich auch in der Bildungsreform – etwa das Aufbrechen der 50-Minuten-Einheiten, verschränkter Unterricht, verbale Beurteilungen, Schulautonomie und Ganztagsunterricht. Als Vorbilder werden aber immer die skandinavischen Länder und die Niederlande genannt. Werden die Waldorfschulen in Österreich nicht ernst genommen?

Sperl: Wenn man sie pädagogisch braucht, wird die Waldorfpädagogik schon ernst genommen. Es fehlt aber die politische Anerkennung, um uns auch mit finanziellen Mitteln auszustatten, damit wir konkurrenzfähig mit den Privatschulen in konfessioneller Trägerschaft sind.

STANDARD: Wie weit waren freie Schulen in die Bildungsreform eingebunden?

Sperl: In die Bildungsreform waren die freien Schulen gar nicht eingebunden. Das finde ich wirklich schade, weil es viele positive Beispiele gäbe. Bildungsministerin Sonja Hammerschmid hätte nicht nach Holland fahren müssen, sie hätte sich das Gleiche auch bei uns anschauen können. Das hängt vielleicht auch mit dem österreichischen Syndrom zusammen, dass der heimische Prophet im Lande nichts gilt. Bei der tatsächlichen Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik vermisse ich oft die Ernsthaftigkeit.

STANDARD: Nichtkonfessionelle Privatschulen sind gegenüber konfessionellen schlechtergestellt. So haben konfessionelle Privatschulen einen Rechtsanspruch auf Subventionen zur Deckung ihres gesamten Personalaufwands, nichtkonfessionelle erhalten nur eine Ermessensförderung, die den Personalaufwand bei weitem nicht deckt. Die entsprechende Verfassungsklage wurde im März zurückgewiesen. Wie geht es da weiter?

Sperl: Wir werden diesen Weg bis zum Ende gehen. Natürlich ist das auch eine strategische Maßnahme. Wir wären natürlich froh, wenn wir nach der Wahl einen neuen Gesprächspartner haben, wo wir das Thema neu besprechen können. Aber uns ist wichtig, auch diesen Weg zu Ende zu gehen. Wir haben wieder um die Subvention angesucht, so wie es uns der Verfassungsgerichtshof bei der Zurückweisung empfohlen hat, Bescheide haben wir aber noch keine bekommen. Die Behörde hat dafür ein halbes Jahr Zeit. Wir erwarten jetzt, dass wir Negativbescheide bekommen. Dann geht es weiter, und wir werden ein Bescheidprüfungsverfahren beim Bundesverfassungsgerichtshof anstreben. Das ist hart für die Schulen, weil sie an ihre finanziellen Grenzen stoßen.

STANDARD: Im Vergleich mit den Regelschulen schnitten Waldorfschüler bei der Pisa-Studie 2015 in Naturwissenschaften und Lesen besser ab, in Mathematik schlechter. Wie erklären Sie sich das, wo sehen Sie Verbesserungspotenzial?

Sperl: Das ist schwierig zu verallgemeinern. Im Prinzip lässt sich aber sagen, dass unsere Schulen neben der ganzheitlichen Entwicklung der Schüler einen stark bildnerischen Zweig im Fokus haben. Wir unterrichtenentwicklungsgerecht, da kann es vorkommen, dass manche Lerninhalte später vermittelt werden, als in der Regelschule und sich das auf den PISA-Test auswirkt.

STANDARD: Die Lernmethoden sind im Umbruch – Stichwort Digitalisierung, Flipped Classroom, E-Learning. Wie modern ist die Waldorfpädagogik?

Sperl: Wir haben nicht den Anspruch, wirklich modern sein zu wollen. Ich glaube aber, dass wir nicht oberflächlich sind. Unsere Auseinandersetzung mit der Digitalisierung hängt damit zusammen, dass wir sagen: Ab welchem Alter ist etwas kindgerecht? Das ist eine zentrale Frage in der Waldorfpädagogik: Ab wann mache ich was? Das betrifft aber nicht nur die Digitalisierung. Wir müssen uns sicher noch stärker damit auseinandersetzen, wie es damit weitergeht.

STANDARD: 90 Jahre gibt es die Waldorfpädagogik bereits in Österreich. Was sind die Pläne für die nächsten 90 Jahre?

Sperl: Wesentlicher Wunsch ist, dass wir genügend Personal haben, damit wir die Kinder dort abholen können, wo sie tatsächlich stehen. Denn jeder Mensch ist mit seinen Fähigkeiten und Begabungen zu wertvoll, als dass man ihn vernachlässigen könnte. Und das ist auch Ziel der Waldorfpädagogik. Jedes Kind soll die Möglichkeiten und die Ausbildungen bekommen, damit es möglichst gut seinen Platz in der Gesellschaft findet. Dafür brauchen wir mehr finanzielle Mittel. Notwendig ist aber auch die politische Anerkennung unserer Schulen. Zahlreiche pädagogischen Innovationen wurden an Waldorfschulen erfolgreich erprobt und dann von den Regelschulen übernommen. Wir leisten seit Jahrzehnten Pionierarbeit und das muss endlich honoriert werden. (Gudrun Ostermann, 13.10.2017)