Sowjetisches Poster aus dem Jahr 1947, das mit dem Slogan "Gut Arbeiten – Brot wird gedeihen" die Arbeit der Bauern würdigt; 1947 war die Zeit der Nachkriegshungersnot, für die Lyssenkos pseudowissenschaftliche Lehren mitverantwortlich waren.

M. Solowew, www.history-worlds.ru

Jena/Wien – Wenn es um den schädlichen Einfluss totalitärer Politik auf die Wissenschaft geht, gibt es einige beliebte Beispiele: die "Deutsche Physik" etwa, die im Nationalsozialismus Einsteins Relativitätstheorie und die Quantenphysik auch aus rassistischen Gründen ablehnte. Oder den "Lyssenkoismus", benannt nach dem sowjetischen Agrarwissenschafter Trofim Denissowitsch Lyssenko (1898–1976).

Unheilvolle Einflüsse

Lyssenko, der ab 1935 zur bestimmenden Figur der sowjetischen Biowissenschaften wurde, machte eine krude Version der "Vererbung erworbener Eigenschaften" zur offiziellen Wissenschaftsdoktrin: Er propagierte unter anderem, dass man durch entsprechende Behandlung Getreide nicht nur winterhart machen könnte, sondern dass diese Eigenschaften "neo-lamarckistisch" vererbt würden. (Lamarck war ein Vorläufer von Darwin und sah nicht in der Selektion den entscheidenden Mechanismus der Evolution, sondern in den Umweltbedingungen und der Anpassung daran.)

Der eher ungebildete Agrarwissenschafter ohne viel Ahnung der damaligen Vererbungslehre behauptete sogar, dass man durch Umwelteinflüsse etwa Weizen in Roggen verwandeln könne. Die moderne westliche Genetik hingegen, die genau solche Annahmen widerlegte, wurde von Lyssenko in Bausch und Bogen verdammt. In der sowjetischen Landwirtschaft führte das zu Missernten, die letztlich Millionen Menschen verhungern ließen.

In der Wissenschaft machte sich Lyssenko, der von Stalin protegiert wurde, an die Verfolgung der sowjetischen Genetiker. Sein bekanntestes Opfer war der renommierte Botaniker Nikolai Iwanowitsch Wawilow, der 1943 im Gefängnis in Saratow verhungerte. Erst nach Chruschtschow verlor Lyssenko, der zur Absicherung seiner nicht nur aus heutiger Sicht pseudowissenschaftlichen Lehre – eben des Lyssenkoismus – auch vor Betrug und Täuschung nicht zurückschreckte, allmählich seinen unheilvollen Einfluss.

Trofim Lyssenko bei einer Sitzung der Akademie für Agrarwissenschaften 1948.
Foto: Dmitri Baltermants

Der Geist Lyssenkos

Doch in Putins Russland scheint Lyssenko nun dank einer falsch verstandenen Epigenetik und einer Renaissance des Stalinismus und Kreationismus auf verquere Weise wiederzukehren: Da es mittlerweile einige Hinweise darauf gibt, dass Umwelteinflüsse womöglich über einige Generationen hinweg epigenetisch (etwa der sogenannten Methylierung der DNA) "gespeichert" und so vererbt werden können (nicht aber in den Genen selbst), glauben einige unbelehrbare Kreationisten, Lyssenko- und Stalin-Anhänger in Russland, dass damit auch dessen Lehren in gewisser Weise bestätigt seien.

Entsprechend wird der ehedem verfemte Forscher wieder in kreationistischen Biologielehrbüchern der russisch-orthodoxen Kirche zitiert und von fragwürdigen Publizisten und Ideologen mit Verweis auf die "Epigenetik" pseudowissenschaftlich rehabilitiert. Genau das zeigte im Vorjahr bereits der US-Wissenschaftshistoriker Loren Graham (Emertius der Harvard University und des MIT), einer der besten Kenner der (Fehl-)Entwicklung der sowjetischen Wissenschaften, in seinem lesenswerten Buch "Lysenko’s Ghost".

Wiederkehr eines Untoten

Gut ein Jahr nach Grahams Veröffentlichung befasst sich nun auch ein deutsch-russisches Biologenteam mit dieser Wiederkehr eines Untoten: "Wir beobachten in Russland gegenwärtig in den Biowissenschaften eine unheilvolle Verbindung von Politik und Wissenschaft", sagt der Biologiehistoriker Uwe Hoßfeld (Uni Jena), der gemeinsam mit Edouard Kolchinsky (Russische Akademie der Wissenschaften), Ulrich Kutschera (Uni Kassel) und Georgy Levit (Uni Potsdam) "Russia’s new Lysenkoism" analysiert hat.

Die Autoren gehen in ihrer Studie im Fachblatt "Current Biology" nicht nur auf die aktuellen Publikationen in Russland ein, sondern analysieren auch deren inhaltliche Fehler bei der wissenschaftlichen Erklärung von Lyssenkos "Erkenntnissen" durch Epigenetik und verknüpfen das Ganze mit einem historischen Rückblick. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der DDR, wo die Ideen Lyssenkos – anders als in der UdSSR – nicht sehr einflussreich wurden.

Lyssenko in der DDR

Obwohl zahlreiche DDR-Schullehrbücher zwischen 1950 und 1955 dieses Gedankengut vermittelten und es an den biologischen Fachrichtungen der Universitäten zu jener Zeit praktisch unmöglich war, moderne genetische Vorlesungen abzuhalten, konnte Lyssenko trotz allen politischen Nachdrucks in der DDR nie richtig Fuß fassen.

Eine Ausnahme stellte allenthalben die Universität Jena dar, wo der aus sowjetischer Emigration zurückgekehrte Marxist und Lyssenko-Anhänger Georg Schneider als Professor tätig war und Lyssenkos Thesen experimentell beweisen wollte – etwa durch Pfropfungen mit Axolotln. Schneider erhoffte sich davon die "Übertragung" bestimmter Eigenschaften auf nächste Generationen – was natürlich fehlschlug.

Tierische Pfropfungsversuche von Georg Schneider, 1947.

Lyssenko im Westen

So wie Lyssenko in der DDR eher wenig rezipiert wurde, so sieht Georgy Levit umgekehrt aber auch eine gewisse Renaissance des historischen Lyssenkoismus im Westen: Es gäbe Biologen im Westen, die eine Linie vom Lamarckismus über Lyssenko bis zur Epigenetik zögen – "Dabei ist das grundlegend falsch!" Es werde behauptet, dass Epigenetik und Lamarckismus eine biologiehistorische Tradition darstellen. "Doch der Lyssenkoismus ist nichts anderes als eine politisch motivierte Form des Neo-Lamarckismus." (Klaus Taschwer, 15.10.2017)