Michael Ehn, "Geniales Schach im Wiener Kaffeehaus 1750-1918". € 29,- / 352 S., 41 Abb., 16 Diagramme. Edition Steinbauer, 2017

Cover: Edition Steinbauer

Mit der Vertreibung der jüdischen Intelligenz ist auch das Wiener Schachleben bedeutungslos geworden. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hatte es Weltgeltung. Mäzene wie Albert Rothschild, Ignaz Kolisch und Leopold Trebitsch sorgten dafür, dass Meisterspieler aus der ganzen Donaumonarchie in der Hauptstadt ein Auskommen fanden. Der spätere Weltmeister Wilhelm Steinitz kam aus Prag zum Studieren nach Wien, wo er Berufsspieler wurde. Zwei längst nicht mehr existierende Kaffeehäuser an der unteren Rotenturmstraße waren 1910 Schauplatz eines halben Wettkampfes um den höchsten Titel. Der am Alsergrund auf- gewachsene Carl Schlechter erspielte dabei einen Vorsprung, der ihn fast ebenfalls zum Weltmeister machte.

Schach wurde in dutzenden Kaffeehäusern gespielt – um die Ehre, öfter um Einsatz. Wichtigster Treffpunkt war bis 1938 das Café Central, das in der Szene auch "die Schachhochschule" hieß. An den Schachbrettern im Central hielten neben Profispielern auch Intellektuelle Hof. Lew Bernstein alias Trotzki schlug sich dort während seines Exils zahllose Nächte um die Ohren. Für Stefan Zweig zählte zu einem Wien-Besuch eine Partie mit Alfred Polgar. Karl Kraus wiederum war von den Schachspielern und ihren Sprüchen so genervt, dass er ins Café Imperial übersiedelte.

Das Spiel war um die Jahrhundertwende so präsent, dass Sigmund Freud das praktische Erlernen des Schachs durch Spiel und Analyse heranzog, um seine Psychoanalyse zu erklären. Der Begründer der Zwölftonmusik, Arnold Schönberg, komponierte eine Spielvariante für vier, die er Koalitions- oder Bündnisschach nannte. Der Zeit gemäß hatten viele Vereinsgründungen einen politischen Hintergrund. Der 1902 gegründete Akademische Schachverein schloss als Erster Juden aus. Einige bürgerliche Schachvereine nahmen prinzipiell keine Arbeiter auf, die sich darum selbst organisierten. Das rationale, von jedem erlernbare Schach wurde von der Arbeiterbildungsbewegung als Antidot gegen Alkohol und Glücksspiel propagiert. Teil der Arbeiterolympiade 1931 in Wien war dann auch ein Schachturnier.

Der Schachhistoriker Michael Ehn, für den Standard als Schachkolumnist tätig, dokumentiert die Vertreibung und Ermordung jüdischer Spieler, geht aber weniger darauf ein, wie bereitwillig sich die bürgerlichen und Arbeiterschachvereine 1938 unter einem Dach vereinigen ließen. Einen Index hätte sein nicht nur für Schachkenner lesenswertes Buch verdient gehabt. (Stefan Löffler, Album, 14.10.2017)