Édouard Louis ist einer der Jungstars der französischen Literatenszene.


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Édouard Louis, "Im Herzen der Gewalt". Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. € 20,60 / 220 Seiten. Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. 2017

Cover: Fischer-Verlag

Dieses Buch ist ein Bericht, der sich selbst infrage stellt: Welche Wahrheit, lautet sein dringliches Anliegen, kommt einer Nacht traumatisierender Gewalt am nächsten? Der Autor, Édouard Louis, 24-jähriger Jungstar der französischen Literaturszene, erzählt von sich selbst als Opfer. Im Herzen der Gewalt ist dennoch kein herkömmlicher Tatsachenroman, der sich an einer Aufarbeitung versucht. Weit mehr interessieren ihn die Verzerrungen und Verfälschungen, die ein Schockerlebnis durch seine sprachliche Rekonstruktion erfährt; wie schnell voreilige Schlüsse gezogen werden, wie wenig man dem Opfer vertraut, wie viel selektiert und gefiltert wird, je nachdem, wer mit wem spricht.

Édouard Louis beginnt seinen Roman mit einer Ersatzhandlung, einer körperlichen Abwehrreaktion. Er versucht sich und seine Wohnung, den Tatort, mit manischer Energie reinzuwaschen. Reda, Sohn eines algerischen Kabylen, hat Louis am Weihnachtsabend 2013 auf der Place de la République auf dem Nachhauseweg angesprochen und so beharrlich auf ihn eingewirkt, dass er schließlich seinem Werben nachgab. Louis nahm ihn mit zu sich, sie hatten mehrmals einverständlich Sex, bevor die Situation eskalierte und er von Reda vergewaltigt und fast erwürgt wurde – nun will dessen Geruch nicht weichen, er sitzt in allen Poren, in seinem Gedächtnis fest.

Mehr als individuelles Leid

Im Herzen der Gewalt könnte ein Kriminalroman sein, doch der Ausgang der Geschichte ist hier nicht das größte Mysterium. Louis' Interesse gilt einer anderen Frage – und hier kommt der an Foucault angelehnte Originaltitel Histoire de la violence ins Spiel. Denn auch er will das Gesellschaftliche an individuellen Handlungsweisen ergründen: Lässt sich in der Nachbetrachtung seiner Nahtoderfahrung, dem Zusammentreffen mit Reda und den daraufhin geführten Gesprächen mit Ärzten, Polizei und seiner Schwester Clara auch eine soziale Konstellation entdecken? Lässt sich aus seinem Leid eine allgemeinere Erkenntnis ziehen?

Nicht nur die Motive des Täters sind dabei von Belang, sondern all jene Rollen- und Verhaltensmuster, Vorurteile und Stereotype, die den unvoreingenommenen Blick auf Täter und Opfer, auf die Besonderheit des Geschehens erschweren, da sie mehr vernebeln als aufklären. Das klingt jetzt vielleicht ein wenig nüchtern, ist es aber ganz und gar nicht. Denn Édouard Louis' äußerst rhythmusbewusster Stil, das Atemlose seiner Prosa, die sich in Satzkaskaden vorwärtsschiebt, entwickelt einen starken Sog. Dieser verliert auch nichts durch die raffinierte Komposition, dass eigentlich nie ein Einzelner spricht. Louis lässt beispielsweise seine Schwester ihrem Mann gegenüber die Nacht rekapitulieren. Er selbst bleibt dabei jedoch ein heimlicher Zuhörer hinter der Tür.

Schon diese Form der indirekten Rede erzeugt Distanz, die durch die Anteilnahme, die Interpretationen von Clara, die aus dem Verhalten von Louis immer wieder ihre eigenen Schlüsse zieht, noch größer wird. Umgekehrt greift der Autor in ihre Darstellung ein, setzt seine Kommentierung kursiv zu ihren Sätzen in Klammern, wenn er die Sichtweise nicht teilt oder bewusst verhöhnt. Bei den Polizeiverhören sind es dann wiederum die Ressentiments der Beamten gegenüber Reda, dem "Ausländer", seinem geliebten Feind, die Louis in ihrem für alle Nuancen blinden Rassismus wütend machen und ihn zu einer Art Selbstzensur veranlassen.

Preis der Befreiung

Schon daran kann man die Dynamik ermessen, dass Louis seinem "Fall" über die Gespräche nicht näher, sondern eher ferner rückt. Einzig Geoffroy (de Lagasnerie, ein befreundeter Philosoph) schweigt in seiner Gegenwart einmal lange. Louis kann irgendwann seinem eigenen Empfinden nicht mehr trauen, es gelingt ihm nicht mehr, auf Abruf zu weinen – als wäre dieser Affekt die einzige authentische Empfindung.

In Das Ende von Eddy, seinem gefeierten, bereits autobiografischen Debütroman, hat Louis – gleichsam parallel zu Didier Eribons Erinnerungsbuch Rückkehr nach Reims – von dem Kraftakt geschrieben, den es gebraucht hat, um als schwuler Heranwachsender in der Provinz zu bestehen. In Im Herzen der Gewalt stellt sich nun heraus, dass auch die Befreiung einen Preis hatte. In Reda begegnet der dem Arbeitermilieu entkommene Jungintellektuelle dem gegenwärtigen Paria in Frankreich. Dessen Aggression steht in einem engen Verhältnis zum Selbstwertgefühl.

Reda sieht in Louis den Gewinnertypen, der all das verkörpert, was ihm selbst fehlt. Nicht zufällig entspinnt sich die Gewalt um ein Statussymbol – das iPhone -, und die Scham, schon in Louis' Debüt ein zentraler Begriff, "schlägt" nunmehr auf ihn zurück. Louis fasst damit exakt eine Bruchlinie von Frankreichs Gegenwart in den Blick: Das liberale Modell erweist sich als fragil. Louis muss sogar mit einer neuen Angst vor dunkelhaarigen Männern kämpfen. "Der Rassismus, also das, was ich immer als das meinem Wesen radikal Entgegengesetzte empfunden hatte, das absolut andere meiner selbst, erfüllte mich unvermittelt, ich war die anderen geworden." Dieses neue Wir zu überwinden wäre das Ziel. (Dominik Kamalzadeh, 16.10.2017)