Auch ein Chemie-Ingenieur und Universitätsrektor in einer anatolischen Provinzstadt versteht es, theologische Handreichungen für den Alltag zu geben. Das haben die Türkinnen und Türken diese Woche gelernt. Die Hand einer nichtverwandten Frau zu schütteln sei fürchterlicher, als Feuer in der Hand zu halten, schrieb Uni-Rektor Mustafa Talha Gönüllü in Adıyaman auf seiner Facebook-Seite und behauptete, damit den Propheten zu zitieren.

Für Islamgelehrte steht diese angeblich überlieferte Aussage auf wackligen Füßen. Doch Gönüllü (wörtlich: der mit dem Herzen) führte nur einen Streit fort, der in diesen Wochen die säkularen Türkinnen einmal mehr gegen die konservativ-islamische Führung im Land aufbringt.

Spieß umgedreht

Ende September, beim internationalen Filmfestival in Adana war es, da hatte die Schauspielerin Meltem Cumbul den Spieß umgedreht und einem regierungsnahen Regisseur bei der Preisverleihung nicht die Hand geschüttelt. Der Vorfall war unübersehbar: Cumbul, angetan in einem kühn geschnittenen, langen weißen Abendkleid, war eine der beiden Moderatorinnen des Abends. Sie lächelte fein und nickte, wie es Brauch bei konservativen Muslimen ist, und die Hand von Regisseur Semih Kaplanoğlu blieb in der Luft.

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Kaplanoğlu kam, so gesehen, noch einmal um einen Griff ins höllenheiße Feuer herum, doch seine Reaktion war gleichwohl wütend. "Hassdenken" und "offenen Faschismus" nannte er die Verweigerung des Handschlags und stellte die Schauspielerin in eine Reihe mit den Putschisten vom Juli 2016. Meltem Cumbul aber wollte damit gegen die fortschreitende Islamisierung der Türkei protestieren: Keine Hand ausstrecken bei der Begrüßung von Frauen wird in Kreisen, die sich der Regierung andienen wollen, zunehmend chic.

Machtkalkül

Den Auslöser hatte Berat Albayrak gegeben, der ambitionierte Energieminister und Schwiegersohn von Staatschef Tayyip Erdoğan. Bei einem Parteitag der AKP im Mai 2016 ließ er die Hand von Sare Davutoğlu, der Ehefrau des früheren Premiers, stehen und legte lächelnd die eigene Hand ans Herz. Dass es in Wahrheit weniger um tiefe Religiosität als um die Festigung des Machtzirkels um Staatschef Erdoğan ging, schien politischen Beobachtern schon damals klar. Schließlich trägt auch Sare Davutoğlu ein Kopftuch.

Ähnlich verhält es sich im Fall von Cumbul und Kaplanoğlu, der in der Türkei prominenten Schauspielerin und des Regisseurs. Cumbul vertritt das alte Bürgertum und die urbane, zum Westen hin gerichtete türkische Gesellschaft. Eine Solidaritätserklärung von 111 Künstlern und Intellektuellen für die hungerstreikenden, später inhaftierten Lehrer Gülmen und Özakça hatte sie im Juni unterschrieben. Als "beyaz haçli", als eine weiße Christenfreundin wurde sie nach dem Vorfall auf dem Filmfestival unter anderem beschimpft.

Im Strom der AKP

Kaplanoğlu wiederum, der in Adana als bester Regisseur ausgezeichnet wurde, schwimmt im Strom der seit nun 15 Jahren regierenden AKP mit. Sein neuester Film, die apokalyptisch-futuristische Erzählung "Buğday" ("Weizen"), hatte den größten Förderungsbeitrag des türkischen Kulturministeriums erhalten. Kaplanoğlus Frau schreibt als Kolumnistin in einer der islamistischen regierungsnahen Zeitungen.

Cumbuls Handschlagverweigerung ist nur eine der Episoden im Widerstand der säkularen Türkinnen gegen das konservativ-religiöse Establishment. Bemerkenswert ist, dass der Protest trotz des repressiven Klimas in der Türkei weitergeht. Frauen gingen in den vergangenen Monaten auf die Straße, um Respekt für ihre Bekleidung einzufordern. Dies folgte auf eine Reihe von Vorfällen, in denen Männer Frauen in der Öffentlichkeit ohrfeigten, weil sie kurze Hosen oder Röcke trugen.

Unlängst zogen Türkinnen auch vor das Parlament in Ankara. Dort schickt sich Erdoğans mit absoluter Mehrheit regierende AKP an, ein Gesetz durchzubringen, das Muftis die Schließung von Ehen erlaubt. Dies wird nur zu einer tieferen Spaltung der türkischen Gesellschaft führen, warnte der Präsident der Anwältevereinigungen in der Türkei. Dann müssen sich mit einem Mal jene rechtfertigen, die sich weiter im Standesamt auf der Gemeinde trauen lassen, sagte Metin Feyzioğlu voraus. "Das Gesetz wird kommen, ob ihr es mögt oder nicht", entgegnete der Staatschef. (Markus Bernath, 18.10.2017)