Zwei Vagabunden der Liebe, die sich von der Gesellschaft absetzen: Séverine Jonckeere und Luc Chessel in Valérie Massadians "Milla".

Foto: Viennale

Eine junge Frau, im Teenageralter noch, kleingewachsen und mit rotzigem Blick, und ihr kaum älterer, schlaksiger Freund sind im Norden Frankreichs unterwegs. Das Ziel heißt Freiheit, der Wagen ist vorläufig ihr Quartier.

Erst beim Schnitt, hat die französische Filmemacherin Valérie Massadian in einem Interview erzählt, habe sie plötzlich an Nicholas Rays They Live by Night (1948) gedacht, den berühmten Film noir um zwei romantische Ausreißer, auf die in der Filmgeschichte wiederholt Bezug genommen wurde. Der Film habe ihr geholfen, für Milla eine Struktur zu finden.

Doch welche Form hat Milla, dieser so kraftvolle wie lyrische Film eigentlich? Eine Besonderheit von Massadians Nachfolgearbeit zu ihrem sechs Jahre zurückliegenden, preisgekrönten Debüt Nana ist, dass sie gleichsam drei Filme ineinander schließt. Zum einen ist es das Abenteuer eines Pärchens, das sich aus der Gesellschaft hinaus begibt und in einem unbewohnten Haus ein wildes (aber deshalb nicht konfliktfreies) Leben zu zweit führt.

Und dann ist die von Newcomerin Séverine Jonckeere zwischen trotzigem Kind und heranwachsender Frau verkörperte Milla irgendwann auf sich allein gestellt. Die werdende Teenagermutter arbeitet in einem Hotel als Zimmermädchen. Man folgt ihr in diesen profaneren, entbehrungsreicheren Lebensabschnitt mit gespannter Aufmerksamkeit, selbst wenn sie nur Pyjamas in Zimmern zusammenfaltet. Denn Massadian hält in ihrem Habitus die Erinnerung an das Zurückliegende wach, ihren Eigensinn, eine Idee von Ausgelassenheit, die sie genauso umgibt wie die Melancholie darüber, dass etwas verloren ging.

Milla beschreibt die Passage einer Frau, die zwischen allen Stühlen steht, aber sich trotzdem nicht unterkriegen lässt. Für die Gleichaltrigen ist sie als Schwangere keine Option, für die Älteren aufgrund ihrer Jugend nicht. Valérie Massadian arbeitet ohne Drehbücher, die Szenen und Dialoge werden spontan erarbeitet. Daraus schöpft der Film eine unterschwellige Kraft, die ihn über herkömmliche Empathiemuster des Sozialdramas weit hinaushebt.

Milla wird nie zu einer Heldin, die stellvertretend für eine Allgemeinheit etwas zu meistern hat. Sie gibt kein Beispiel ab, sondern macht eine Erfahrung sichtbar, sie wächst und kämpft, sie sehnt sich nach Nähe und lässt sich fallen. Alles ist körperliche Anverwandlung. Add it Up, dieser alte Schrei nach Leben von Violent Femmes, bleibt ihre bevorzugte Nummer.

"Day after day / I will walk and I will play", heißt es da, und das beschreibt den Sog dieses Films, seinen unsteten Rhythmus vielleicht am besten. Wenn Milla am Ende mit ihrem Kind zu Abend isst, geht kein Prozess zu Ende. Aber eine andere Station ist erreicht, und das Ziel nicht mehr so unbekannt. (Dominik Kamalzadeh, 20.10.2017)