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Bewegung ist wichtig für Kinder – und sie sollen auch bestmöglich vor Verletzungen geschützt werden.

Foto: REUTERS/John Kolesidis

Die Entscheidung 4 Ob 99/17p des Obersten Gerichtshofs (OGH) sorgt für Aufregung. Ein fünfjähriges Mädchen hatte sich beim Rutschen im Kindergarten verletzt. Der Vater klagte die den Kindergarten betreibende Gemeinde auf Schadenersatz und bekam (dem Grunde nach) Recht. Der Anspruch wurde auf die Verletzung der Aufsichtspflicht durch die betreuende Pädagogin gestützt. Diese Entscheidung wird vielfach – auch von Monika Kosa im STANDARD-Userkommentar – kritisiert. Dazu ein paar Anmerkungen.

Was der OGH entschieden hat

Der OGH prüft nicht jede Gerichtsentscheidung im Detail nach. Das Rechtsmittel an den OGH – die Revision – ist nur zulässig, wenn es sich um eine Rechtsfrage erheblicher Bedeutung handelt. Das ist etwa der Fall, wenn die Rechtsfrage über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat oder der Vorinstanz eine krasse Fehlbeurteilung vorzuwerfen ist. Betrifft die Frage nur den Einzelfall und ist die Ansicht der Vorinstanz vertretbar, dann ist Revision zurückzuweisen. Das ist hier geschehen. Für die Beurteilung der Aufsichtspflicht sind die konkreten Umstände maßgebend. Der OGH hat also keine generelle Regelung über das Turnen im Kindergarten aufgestellt. Er hat nur ausgesprochen, dass die konkrete Würdigung des Oberlandesgerichts (OLG) Graz zumindest nicht komplett verfehlt war.

Welcher Maßstab angelegt wurde

Bei der Beurteilung des Ausmaßes der Aufsichtspflicht ist einzubeziehen, was "angesichts des Alters, der Eigenschaft und der Entwicklung des Aufsichtsbedürftigen vom Aufsichtsführenden vernünftigerweise verlangt werden kann". Es kommt darauf an, wie sich ein "maßgerechter" Mensch verhalten hätte. Dieser Maßmensch muss nicht – wie suggeriert – alle Verletzungen des Kindes verhindern. Er muss aber Gefahren, die konkret vorhersehbar sind, vermeiden. Ob die Kindergartenpädagogin hier gegen diese Grundsätze verstoßen hat, können wir nicht vollständig beurteilen. Da die Revision zurückgewiesen wurde, fasst der OGH den Sachverhalt nur kurz zusammen. Uns fehlen also die genauen Details. Auch deshalb verbieten sich allgemeine Rückschlüsse.

Ich möchte aber einige bekannte Punkte hervorheben. Die Kinder sind nicht auf einer "normalen" Rutsche gerutscht, sondern auf einer Langbank, die in eine Sprossenwand eingehängt wurde. Langbänke sind deutlich schmaler als Rutschen. Sie verfügen auch nicht über Seitenwände, die das Herunterfallen des Kindes verhindern. Aus dem OGH-Beschluss wissen wir auch, dass die Kinder paarweise rutschen durften. Dadurch haben sie noch weniger Platz auf der Bankoberfläche, die Gefahr eines Absturzes ist größer. Im Lichte dieser Umstände scheint auch mir – wie dem OGH – die Ansicht des OLG Graz vertretbar, dass eine konkrete Gefahr bestanden hat. Wäre diese Gefahr vermieden worden, wenn die Pädagogin dauernd neben der Rutschkonstruktion gestanden wäre? Das können wir nicht beurteilen. Wäre dem aber nicht so gewesen, dann hätte sie die Kinder gar nicht erst in dieser Form rutschen lassen dürfen.

Welche Schlüsse wir aus der Entscheidung ziehen können

Aus juristischer Sicht bringt diese Entscheidung nichts Neues. Politisch hat sie aber – wie auch das Medienecho zeigt – gewisse Sprengkraft. Bewegung ist wichtig für Kinder. Kinder sollen auch bestmöglich vor Verletzungen geschützt werden. Da aber sportliche Aktivitäten risikoreicher sind als etwa Malen oder Singen, brauchen Kinder dabei auch mehr Aufsichtspersonen. Zusätzliche Pädagogin, ein zusätzlicher Pädagoge können nicht alle Verletzungen verhindern, aber sie können diese auf das Unvermeidbare reduzieren. Im gegenständlichen Fall war eine Pädagogin beim Turnen mit 21 Kindern alleine. Als sich das Mädchen verletzte, war sie anderwärtig beschäftigt. Nach dem einschlägigen Steiermärkischen Kinderbildungs- und Betreuungsgesetz (StKBBG) hätten es zumindest zwei Aufsichtspersonen sein müssen. In Wien sind dagegen nur 1,5 Stellen vorgesehen. Diese landesrechtlichen Regelungen haben aber nichts mit der Aufsichtspflicht zu tun. Wie schon gesagt, bestimmt sich diese nach dem, was das Kind braucht und eine maßgerechte Aufsichtsperson leisten kann. Bei der Festlegung des Betreuungspersonals in Kindergärten durch die Länder sind dagegen diese Erwägungen – vorsichtig formuliert – nicht ausschließlich maßgeblich. Es spielen auch finanzielle Gesichtspunkte eine große Rolle.

Dass eine Pädagogin – offenbar wegen der Erkrankung ihrer Kollegin – alleine 21 Kinder beim Turnen zu betreuen hatte, ist nicht ihre Schuld. Die Lösung für die Unterbesetzung kann aber nicht sein, den Standard für die Aufsichtspflicht zu senken. Aufsichtspersonen sollen weiterhin alles ihnen mögliche (und nur das) tun müssen, um Kinder zu schützen. Hier den Gerichten Realitätsferne vorzuwerfen ist billig und falsch.

Zu Recht kann aber der Staat kritisiert werden. Es kann nicht angehen, dass Pädagoginnen und Pädagogen von ihrem Dienstgeber im Stich gelassen werden, wenn eine Kollegin, ein Kollege wegen Krankheit ausfällt. Schön, wenn angedacht wird, Pädagoginnen und Pädagogen gegen allfällige Haftungen zu versichern. Schon jetzt kann ihre Haftung im Verhältnis zum Dienstgeber auf null reduziert werden. Manche verweisen hier auch auf das Dienstgeberhaftungsprivileg. Aber das Kernproblem ist damit nicht gelöst.

Kinderbetreuung braucht ausreichend Personal, damit solche Unfälle gar nicht passieren. Österreich könnte noch einiges tun. Wenn wir nicht wollen, dass Betreuungseinrichtungen und Betreuungspersonal aus Selbstschutz den Kindern jede Bewegung verbieten, dann müssen wir ihnen die Möglichkeiten geben, die Kinder sicher turnen zu lassen. Das kostet Geld. Aber das sollte es uns wert sein. (Michael Komuczky, 18.10.2017)