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Wenn Nádas von seiner Familie erzählt, dann ist es auch die Geschichte zwischen den Zeitläufen zerriebener Menschen.

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Péter Nádas, "Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers". € 39,95 / 1278 Seiten. Rowohlt-Verlag, 2017

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Der Winter 1944/45 war der kälteste im Krieg. 102 Tage lang wurde Budapest belagert. Als am 13. Februar 1945 alles vorbei ist, als die Menschen langsam aus den Trümmern ihrer zerstörten Häuser und viele aus Kellerverstecken herauskommen, in denen sie, verfolgt von den faschistischen Pfeilkreuzlern und Eichmanns Männern, noch viel länger hatten ausharren müssen, fängt das Leben noch einmal an: "aus dem totalen Chaos der Weltvernichtung erwachend".

Péter Nádas ist zwei Jahre alt, die ersten Bilder, Erinnerungen setzen ein. Aber was heißt Leben? In Budapest blieben über 160.000 Tote zurück, die meisten wurden in Parks verscharrt oder von der Donau weggeschwemmt. Budapest ist eine "nach Leichen stinkende Oberfläche" einer "zertrümmerten Welt". Die Überlebenden sind traumatisiert – nicht nur vom Krieg, der Terror des Faschismus hat in der Endphase tiefe Wunden hinterlassen.

Nádas' Leben fällt in eine weltgeschichtlich bewegte, von Gewalt durchsetzte Zeit. Am Tag seiner Geburt, an einem Mittwoch im Oktober 1942, geht ein deutsches Einsatzkommando, das Reserve-Polizeibataillon 101 aus Hamburg, gemeinsam mit ukrainischen und polnischen Hilfskräften daran, das Ghetto von Misotsch zu liquidieren, 1259 Menschen. Zuerst werden die Männer erschossen, dann werden den Frauen die Kinder entrissen. Einige der Mörder fotografieren ihre Opfer "mit einer frisch geraubten Leica".

Misotsch ist weit weg, in der Ukraine. Aber Tod und Leben gehören nun einmal zusammen. An diesem Morgen fährt Klára Nádas, geborene Tauber, in einem leichten Seidenkleid mit der Straßenbahn in die Klinik – "wobei es", schreibt Nádas, "für mich bestimmt besser gewesen wäre, wenn ein Auto sie überfahren oder eine Straßenbahn niedergewälzt hätte", er dagegen sollte an diesem gewaltvollen Tag "problemlos", ja "unvorsichtigerweise lebend zur Welt" kommen.

Unberechenbare Wirklichkeit

Ein unerhörter, den Leser schockierender Satz, als würde der Autor noch im Nachhinein bedauern wollen, in eine solch "vielversprechende" Welt geboren worden zu sein. Den Fluch des Überlebens kann auch der Ich-Erzähler nicht abschütteln, als unberechenbar erlebt das Kind seine Wirklichkeit – ein autistisches Kind, heißt es im Text, das dennoch in jedem Augenblick neugierig nach draußen blickt, um die Zusammenhänge seiner unmittelbaren Welt zu ergründen.

Nádas wird in eine streng kommunistische, jüdisch-assimilierte Familie hineingeboren, die Eltern überleben als Widerstandskämpfer mit gefälschten Papieren. Im stalinistischen Milieu der Nachkriegszeit erschöpfen sich die Vorstellungen von einem gerechten Leben jedoch schnell, das ist eine Entwicklung bis zum familiären Verlust. Noch vor dem Aufstand 1956 stirbt Nádas' Mutter an Krebs, der Vater kommt nie darüber hinweg und erschießt sich zwei Jahre später. Eigentlich wollte er seine beiden Söhne mit in den Tod nehmen: Er hat die Pistole bereits auf Péter Nádas' jüngeren Bruder gerichtet, bringt es aber nicht fertig abzudrücken. "Wenn er mit mir angefangen hätte", schreibt Nádas, "hätte er es vielleicht geschafft."

Ausgeliefertheit des Menschen

Der Autor ist 15, als er und sein Bruder Pál Vollwaisen sind. Der Leser erfährt von der Katastrophe bereits am Beginn dieser fast 1300 Seiten umfassenden Autobiografie, eine intensive Geschichte von der Ausgeliefertheit des Menschen. Langatmig ist dieses Buch an keiner Stelle. Wie Nádas Details reflektieren und umkreisen kann, ohne sich dabei zu wiederholen, ohne Spannung zu verlieren, hat er, ein Meister der Langform, schon oft bewiesen.

An seinem über 1000 Seiten starken Buch der Erinnerung, mit dem er sich Anfang der 1990er-Jahre in die Weltliteratur einschrieb, hat er 18 Jahre lang gearbeitet. Die 2012 erschienenen Parallelgeschichten mit 1700 Seiten wurden erst recht zum Gigantenwerk (eine Herausforderung auch für seine großartige Übersetzerin Christina Viragh!). Und nun seine Lebenserinnerungen, die eigentlich nur die Jahre seiner Budapester Kindheit und Jugend umfassen – opulent, kraftvoll, gestenreich, eine geradezu homerische Leistung, mythologisches Epos und zugleich grandioser Bildungsroman.

Gefühl der Fremdheit

Wenn etwas so dunkel und klar zugleich beginnt, denkt man sofort an die Rousseau'schen Bekenntnisse, an deren ebenso unerhörten Anfang: "meine Geburt war mein erstes Unglück". Auch Nádas' Kindheit ist vom Gefühl der Fremdheit durchdrungen, sein Buch ist eine tiefe Geschichte der Ich-Erforschung, ein psychologischer Familienroman und, indem er ihn untrennbar mit Zeitgeschichte verwebt, eines der großen Grundbücher des 20. Jahrhunderts. Sein Titel Aufleuchtende Details unterstreicht die affirmative Kraft des Vielschichtigen, den Reichtum der Augenblicke, die hier Geschichte bilden, er verweist auf die Kraft des Ganzen, die diesem Erinnerungstext voller Sprachmacht und imposanter Bilder eignet.

Es soll dabei nicht vergessen werden, dass Nádas jahrelang auch als Fotoreporter gearbeitet hat. Sein selektiver wie umfassender Blick erzeugt Bilder – "Standfotos" der Erinnerung -, die sich zu einem Riesengemälde des eigenen Lebens zusammenfügen, gezeichnet von den Verwundungen des 20. Jahrhunderts. "Ein Augenblick hat viele Teile", heißt es im Text, dessen Erzähler auch die Funktion eines Berichterstatters einnimmt, der jedes einzelne Bild genauso wie die großen Zusammenhänge immer im Auge hat.

Altösterreichisches Erbe

Und Nádas holt in diesem Gemälde weit aus: So umfassend und klar wie von sich selbst erzählt er auch die Geschichte seiner Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, einer mitteleuropäischen Familie, die die Geschichte des Judentums in Ungarn, des aufkeimenden Liberalismus und der Demokratiebewegung am Ende des 19. Jahrhunderts widerspiegelt, aber auch den habsburgischen Mythos illustriert.

In der Familie wird Ungarisch und Deutsch gesprochen, "Monarchie-Deutsch", wie es Nádas nennt. Immer wieder lässt er seine Großmutter Einmach, Speis, Geseres, Haluschka, Masel sagen. Das altösterreichische, vielfach vom Jiddischen bestimmte Wortgut hat in seiner Generation offenbar noch fortgelebt. Als er Jahre später, 1968, in Warschau das von Ida Kaminska geleitete jiddische Theater besuchte, war er überrascht, wie gut er Jiddisch verstand – es war die Sprache seiner Großmutter Cecília Nussbaum, die, auch wenn sie ungarisch redete, immer wieder in ihren jiddischen Wortschatz zurückfiel.

Zeitläufe zerriebener Menschen

Aber auch hier hat die Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts Tatsachen geschaffen. Wenn Nádas von seiner Familie erzählt, dann ist es auch die Geschichte zwischen den Zeitläufen zerriebener Menschen, bürgerlicher und kommunistischer Intellektueller, deren Errungenschaften – Assimilation, Liberalismus, sozialer Fortschrittsglaube – im Faschismus und Stalinismus demontiert werden. Letztlich auch die eigene Identität, die als Fremdheit begriffen wird: Als Nádas acht ist, erklärt er zu Hause, er "würde die Juden hassen, weil sie Christus ans Kreuz genagelt hätten", so hat er es im calvinistisch-reformierten Religionsunterricht gehört.

Die Mutter stellt ihn vor den Spiegel: "Da hast du einen Juden, kannst ihn ruhig hassen." Es sind die Ernüchterungen, die den Geist schärfen, die zur kritischen Abwehr existenzieller Zumutung führen, ein Lehrstück für alles Spätere. Auch wenn die Erinnerungen und die Deutung der Geschichte mit der "Revolution" 1956 enden, sind sie ein universelles Gesamtstück. Dieser Auftakt, der erst recht auf die nachfolgende Lebensgeschichte neugierig macht, ist ein Opus magnum nicht nur der Memoirenliteratur, sondern der Literatur überhaupt.(Gerhard Zeillinger, Album, 24.10.2017)