Wie die Abgesandten in Brüssel ihre Länder, repräsentieren die Neubauten in Europas Hauptstädten die jeweilige aktuelle Idee von Stadt. Paris hat die Hallen, Rom die Museen, Berlin das Schloss – und Wien? Wien hat den Wohnbau. Seit jeher ist Wohnbau das Neubau-Aushängeschild der Stadt, das sich fremde Repräsentanten neugierig ansehen. Andere Hauptstädte werben mit Kultur- und Regierungsbauten, Wien mit gefördertem und sozialem Wohnbau. Und das ist gut so. Das Wiener Modell, 2016 unter diesem Label in Ausstellung und Buch präsentiert, wird seit hundert Jahren erfolgreich realisiert. Städtische Grundstücksentwicklung, Förderung, Durchmischung und Wettbewerbe garantieren guten, leistbaren Wohnbau in ausreichender Zahl für die nächsten Jahrzehnte. Aber was wird sonst so kommen, in den nächsten Jahrzehnten?

Oase 22, Studio uek, Köb&Pollak°Schmoeger, g.o.y.a. In Linz wäre dies nicht mehr möglich.
Foto: Wolfgang Thaler

Die Wende bringt nicht immer Gutes

Jede Wende bringt Neues, vor allem im Wohnen, nicht immer jedoch bringt eine Wende Gutes. Als 2015 in Oberösterreich die Wahlen eine neue Mischung an Mandaten und Zuständigkeiten ergaben, trat auch der neue Wohnbau-Standardausstattungskatalog in Kraft, eine Verordnung für Bauträger und Planende, die sich gewaschen hatte. Seit 2015 wird unter der Zielsetzung "Wege zur Wirtschaftlichkeit" Wohnbauförderung in Oberösterreich nur vergeben, wenn bestimmte Kriterien erfüllt werden, die anderswo als Qualitätskriterien in Wettbewerben gelten.

Der Wohnbau-Standardausstattungskatalog – schon das Wort ist hässlich – hat vor allem Verbotscharakter: keine begrünten Flachdächer, keine Glasbrüstungen, keine Schiebefenster, keine vorgehängten Fassaden, keine Vor- und Rücksprünge, keine Oberlichten bei Türen, keine Holzfenster, keine Holzterrassen und noch etliches mehr, das nicht sein darf. Der Katalog ist tödlich für Städtebau, Architektur, Wohnqualität und soziale Zusammengehörigkeit zugleich, weil er alle Maßstäbe der Planung betrifft. Bevor noch die erste Skizze zum Baukörper entsteht, werden sämtliche räumlichen, ökologischen und sozialen Entwicklungen gestoppt.

Parks, guter Schulbau, differenzierter Wohnbau. Wird es das in einigen Jahren noch geben?
Foto: Sabine Pollak

Standardisierung ist nicht immer schlecht

Es war ja an sich keine schlechte Idee, die hohen Standards im Wohnungsneubau zu reduzieren und den Wohnbau zu standardisieren. Aber genau dies ist in der Geschichte des Wohnungsbaus schon einmal schiefgegangen, mit Plattenbauten, die außer Standardisierung und Leistbarkeit wenig Qualitäten aufwiesen. Wobei, die Platte an sich ist kein schlechtes Element und ihr Potential noch lange nicht ausgeschöpft, solange Umfeld, Bauphysik und räumliche Vielfalt passen. Aber auch der Fertigteilbau stagniert, zumindest was den Wohnungsbau betrifft – außer im Holzbau, der sich im Massenwohnungsbau jedoch noch bewähren muss.

Die Ausstellung "Neue Standards". Was muss sein im Wohnen, was nicht?
Foto: Sabine Pollak
Standards können in Frage gestellt werden, sofern neue Standards kommen.
Foto: Sabine Pollak

Wiener Modell, Europa-Modell

Noch gibt es in Wien keine Plastikfenster, man schätzt räumliche Qualitäten und pflegt die soziale Nachhaltigkeit. Aber die Ökonomie sitzt uns im Nacken wie ein grinsender Luzifer. Jeder Winkel Wohnnutzfläche zählt, ein paar Zentimeter mehr an Raumhöhe lassen Projekte kippen und eine Fassade mit Platten, die auch in zehn Jahren noch gut aussieht, ist undenkbar geworden. Jedoch die Ökonomie alleine, die wird uns in Zukunft nicht glücklich machen. Sie wird uns auch keine friedliche Zukunft sichern, das bemerkte auch zusammenfassend die Jury für den Deutschen Buchpreis als Essenz von Robert Menasses neuen Roman "Die Hauptstadt".

Bezieht man diese Essenz auf die Wohnbauarchitektur so bedeutet dies: Rein auf Ökonomie zugeschnittene Wohnquartiere sind soziale Zeitbomben. Gesichtslose Wohnbauten regen nicht dazu an, sich für das Haus oder die Gemeinschaft zu engagieren. Und das Einsparen von Dachterrasse, Gemeinschaftsküche und Mieterbeeten reduziert Wohnen auf das essentielle Grundbedürfnis, den Rückzug. Rückzug ist notwendig, ein Zuviel davon jedoch bringt Abschottung und kreiert Ausgrenzung. Das wäre kein Wiener Modell. Ich plädiere für die Ausweitung auf ein Modell wider die Nationalitäten und wider den Rückzug, ein Modell, das sich an einer größeren gemeinsamen Idee orientiert, ein Europäisches Wohnmodell im Sinne Menasses. (Sabine Pollak, 27.10.2017)

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