Claudia Bosses Opern-Singspiel "Poems of the Daily Madness" als Uraufführung in der Nordbahnhalle.

Foto: Würdinger

Wien – Der Wahnsinn rauscht, die Stille explodiert und "Rose is a rose is a rose is a rose": Was da passiert, kann mit einer Wendung aus Gertrude Steins berühmtem Sacred Emily-Gedicht als "loveliness extreme" zusammengefasst werden. Zu finden ist diese also bei Claudia Bosse und Anne Teresa De Keersmaeker. Die beiden Antipodinnen auf dem Planeten der performativen Künste zeigen sich als starke Künstlerinnenpersönlichkeiten gerade mit markanten Werken in Wien.

Konkret: Claudia Bosse führt ihr Opern-Singspiel Poems of the Daily Madness als Uraufführung in der Nordbahnhalle vor; De Keersmaeker zeigt ihren Klassiker Rosas danst Rosas von 1983 im Odeon. Außerdem hat Bosses Theatercombinat auf dem Praterstern am Donnerstag ein sogenanntes "performatives Monument" mit dem Titel Explosion der Stille – a silent chorus in den öffentlichen Raum gerückt.

Lärm und Präsenz

Der Praterstern ist indiskret: Verkehr, Sirenen, Menschenwirbel. Bosses stiller Chor hätte da tatsächlich, wie geplant, 100 Performer gebraucht, die sich ruhig hinstellen und durch ihre so aus dem Lärm fallende Präsenz eine Stille "explodieren" lassen. Tatsächlich sind es geschätzt fünfzig geworden, die sich eine Stunde lang im urbanen Getriebe positionierten und dieses mit ihrem Schweigen durchsetzten. Dabei tat sich eine Stein'sche "loveliness extreme" auf, die die Pratersternroutine deutlich merkbar verschoben hat.

Extremer noch gerät die Anmut bei den vier Figuren in Poems of the Daily Madness des Theatercombinat. Im gut geschlossenen Raum der Nordbahnhalle mischen sich da Mirjam Klebel als "Madness", Nic Lloyd als "Hate Crime", Nicola Schössler als "Poems" und Alexandra Sommerfeld als "Terror" unter das Publikum.

Zu Günther Auers Musik werden Textgerüste von Claudia Bosse gesprochen und gesungen. Die Kostüme dieses allegorischen Quartetts erinnern an konstruktivistische Figurinen vom Beginn des 20. Jahrhunderts.

Notstand der Identität

Auffällig kratzt da Lloyds Figur am derzeit anschwellenden Notstand der Identität. "Fuck white people!", bellt sie immer wieder und setzt zum Ausgleich nach: "I love black people!" So schafft es Bosse, den Irrsinn eines neuen Rassismus im Postkolonialismus-Mäntelchen zu konterkarieren, über den Menschen heute wieder nach ihrer Hautfarbe klassifiziert werden.

Das sonst noch Gesprochene kommt wild, kantig, dicht und künstlich daher, als auf Deutsch und Englisch vorgetragene Dichtung mit intellektuellem Impetus. Claudia Bosse ist eine sperrige Formuliererin, die den Süffigkeiten des üblichen Sprachsalats mit leichter und doch zäher Geste einiges an Wortgestänge entgegenwirft: "grobe brünstigkeit und alkohol / das kleine loslassen / das betäuben / im teilsein."

Ganz ohne Worte dagegen bleibt das Frauenquartett in Anne Teresa De Keersmaekers Rosas danst Rosas. Erstaunlich, wie sich der Klassiker von 1983 im Grundton durch seine aktuelle Neubesetzung mit jungen Tänzerinnen verändert hat. Herausragend tanzt die Belgierin Léa Dubois mit ihrem fein lasziv-ironischen Duktus, der den Geist der frühen Eighties wohl am treffendsten in die Gegenwart überträgt. Dieses Stück wirkt, als wäre es gerade erst choreografiert worden. Wie Stein in Sacred Emily von 1913 formuliert: "Rose is a rose is a rose is a rose." Vollendete "loveliness extreme". (Helmut Ploebst, 22.10.2017)