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Scott Forstall von iPhone-Software stellt im März 2009 die neue Handy-Applikation "Cut, Copy and Paste" vor. Kenneth Goldsmiths Thesen zu "Uncreative Writing" basieren auch auf ihr.

Foto: Reuters / Robert Galbraith

Wien – Vanessa Place ist eine US-Rechtsanwältin, die verurteilte Sexualstraftäter in Berufungsprozessen vertritt. Als international vielbeachtete Konzeptkünstlerin produziert sie nicht nur Experimentalromane, die aus nichts anderem als aus wortwörtlich abgeschriebenen Gerichtsprotokollen bestehen. Sie provozierte in den USA auch einen veritablen Skandal, als sie in einem Kunstprojekt auf Twitter die 1936 erschienene, über 1000-seitige Südstaatenschmonzette Gone with the Wind von Margaret Mitchell abtippte, um damit aufzuzeigen, dass es sich dabei um ein Zeugnis des reinsten Rassismus handelt – was ihr in Folge wiederum als Rassismus vorgeworfen wurde. Auf diesem Platz wird das jetzt allerdings etwas überkomplex ... Gugelst du.

Apropos Google. Möglicherweise verhält es sich auf der Welt ja tatsächlich so, dass schon alles gesagt wurde, aber noch nicht von allen. Warum also sich selbst bemühen und dem schwer aufzuspürenden künstlerischen Genius nachdackeln, wenn man sich ohne Genierer auf den Müllhalden der Geschichte bedienen kann und das im Endeffekt eh jedem wurscht ist? Das Internet, unendliche Weiten ... Den Satz kennen wir doch auch von irgendwoher.

Formelhafte Sprache

Das ganze Leben besteht also aus vorgefertigten Sprechblasen. Gefühle wie Liebe oder Hass beruhen auf chemischen Reaktionen. Chemische Reaktionen kann man mit Formeln erklären. Der Mensch spricht eine formelhafte Sprache.

Vanessa Place nimmt im schicken und nun mit sechsjähriger Verspätung auch in deutscher Übersetzung herumgereichten Pamphlet Uncreative Writing. Sprachmanagement im digitalen Zeitalter von Kenneth Goldsmith eine prominente Stelle ein. Ebenso wie Sample-Musiker, berühmte literarische Kopisten, diverse Zitatensammler und Bonmotjäger. Konkrete Poesie, die gute alte Postmoderne, die unverwüstliche Collage kommen ebenso vor.

Marshall McLuhan reitet durch die digitale Prärie, um die im 21. Jahrhundert zunehmend auftauchenden, komplett "unoriginellen", ja, was, "Literatur" verfassenden "Robopoetiker" zu preisen. Selbstverständlich nimmt auch Walter Benjamin breiten Raum in Uncreative Writing ein. Benjamins 1000-seitiges Passagen-Werk wurde zuletzt von Goldsmith vom ursprünglichen Paris auf New York im 20. Jahrhundert umgelegt. Über zehn Jahre trug er aus Büchern, Zeitungsartikeln etc. über New York Zitate zusammen, ohne dass er selbst einen einzigen Satz dazu verfassen musste.

Zeitalter von Copy and Paste

Dieser Wahnsinn hat Methode: Der New Yorker Literaturwissenschafter und Künstler Kenneth Goldsmith, der im Zeitalter von Copy and Paste als Held einer jederzeit reproduzierbaren Kunst gilt, verfasst absichtlich unoriginelle Werke. In seinem Buch Traffic etwa, das das 56-jährige Selbstvermarktungsgenie als Kaiser ohne Kleider sogar vor Barack Obama im Weißen Haus vortragen durfte, zeichnete er sämtliche Verkehrsmeldungen eines Jahres auf, die die Brooklyn Bridge betrafen. Für Day von 2003 transkribierte er eine vollständige Ausgabe der New York Times in Buchform.

Langweiliger geht es nicht? Keine Angst, Kenneth Goldsmith sagt das über sich selbst, aber natürlich meint er das als popgeschichtlich geschulte Blendgranate "ironisch". Soliloquy von 2001 ist das Protokoll seiner "eigenen" Wortmeldungen während einer Woche. Um was es im Band Weather von 2005 geht, ahnen wir.

Goldsmiths radikale These in Uncreative Writing ist jene, dass alles geht, wenn man nur nicht originell und kreativ sein will. Photoshop trifft auf Ölmalerei, mit iPhone-Kopfhörern im Ohr geht man auf den Vinyl-Flohmarkt, mit Werbesprüchen kann man Politanalyse betreiben. Das Internet ist das Ende der Geschichte. Jemand sollte sie zitieren. Ob dieser Aufruf nun mit Literatur zu tun hat oder mit Verwaltungsarbeit, bleibt unklar bis egal. Vergnüglich zu lesen ist dieses Pamphlet allemal. (Christian Schachinger, 21.10.2017)