Kurz' und Straches Koalition wird die Mechanismen der Macht verschieben.

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Wahlen bringen Machtverschiebungen – das sollen sie ja auch. Aber oft verändert sich auch mehr: Es verändern sich nicht nur Akteure, sondern auch Mechanismen der Macht. Dafür lohnt es sich, einen Blick hinter die österreichische Formalverfassung auf die Realverfassung zu legen und zu überlegen, was sich hier jetzt verschiebt.

Worin besteht die Realverfassung in Österreich? Um kurz zu bleiben: Sozialpartnerschaft als eine Form der Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Vermittlung auf Basis von großen, symmetrischen Machtsystemen und, damit verbunden, Politik, die weitgehend hinter Polstertüren passiert. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen haben sich daran gewöhnt, diesen Blick hinter die Polstertüren zu nützen. Auf der Straße passiert in Österreich praktisch nichts. Viele nennen das "undemokratisch", weil es das Parlament entmündigt, und das hat einiges für sich. Es hat auch Vorteile, weil es zum Beispiel Menschen eine qualifizierte Stimme gibt, die in anderen parlamentarischen Demokratien keine haben. Es ist aber zuerst einmal nur eine Beschreibung.

Was kann sich verändern?

Erstens: In der Regierung sind zwei Parteien, deren Vorsitzende mit Sozialpartnerschaft wenig oder nichts anfangen können. Für die FPÖ ist sie Gegner, und Sebastian Kurz meint, sie nur sehr eingeschränkt zu brauchen. Zweitens: Schwarz-Blau-Neos haben um genau einen Sitz eine Zweidrittelmehrheit. Die Verfassung ist also in Griffweite.

Die Kombination aus beidem lässt den Zugriff auf die Fundamente unserer Realverfassung zu. Ob das gut oder schlecht ist, sei hier einmal beiseitegelassen: Es geht darum, wie es wirkt. Die Sozialpartnerschaft besteht aus Institutionen und Prozessen, die einen erheblichen Beitrag zu einer Machtbalance zwischen links und rechts, zwischen Habenden und Nichtshabenden, zwischen Arbeit und Kapital leisten.

Die Sozialpartnerschaft ist ein gelebter Prozess, der sich seit den 80er-Jahren erheblich gewandelt hat. Ein paar Faktoren, etwas unklar unter "Globalisierung" zusammengefasst, haben nationale Wirtschaftspolitik weitgehend minimiert und der Sozialpartnerschaft die wichtigste Grundlage entzogen: eine simultane Beschäftigungs-, Sozial-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik. In vielen Bereichen ist die Sozialpartnerschaft die Verwaltung des Mangels. Einige Randgruppen hat sie noch nie vertreten und tut es auch jetzt kaum, und natürlich entzieht sie dem Parlament Kompetenzen, oder andersherum: Das Parlament hat sie abgegeben. Mag alles sein. Trotzdem sichert sie eine gewisse Machtbalance, und eine andere kommt so schnell nicht daher.

Institutionen sind Macht

Diese Balance ohne Ersatz abzuschaffen erzeugt eine Schieflage, auf der viele Leute abrutschen werden. Das wird dadurch passieren, dass man ihre Träger und deren Prozesse schwächt oder abschafft.

Das betrifft die Institutionen, die für Frieden in der Arbeitswelt sorgen, insbesondere die Kammern und den ÖGB mit ihren Prozessen, den Kollektivvertragsverhandlungen. Diese Institutionen sind aber weitgehend dieselben, die politische und ökonomische Expertise haben für jene, die sich selbst keine leisten können. Es gab kaum ein politisches Großprojekt, zu dem nicht die Arbeiterkammer fundierte Zahlen vorlegen konnte. Das EcoAustria-Institut der Industriellenvereinigung und Agenda Austria tun dies auch, aber mit neoliberaler Schlagseite.

Diese Institutionen sind gleichzeitig jene, die einen erheblichen Beitrag dazu leisten, dass jene, die Recht haben, auch Recht bekommen. Das geht von Musterprozessen über Konsumentenschutz bis zum Besetzen von Beiräten und Laien in der Arbeitsgerichtsbarkeit.

Auch unsere Sozial- und Gesundheitsversorgung ist weitgehend selbstverwaltet, und das hat bei ihren vielen Nachteilen auch Vorteile: Der Apparat schützt sie vor groben, ideologisch getriebenen Eingriffen à la Großbritannien oder USA.

Nahende Machtverschiebung

Im Folgenden eine Prognose: Die nächsten fünf Jahre werden eine erhebliche Machtverschiebung bringen, deren Folgen wir noch Jahrzehnte spüren werden. Es werden eine Menge Menschen ihre Stimme verlieren, und das ist weit ärger, als wenn sie "nur" ihr Recht verlieren. Warum?

  • ÖVP und FPÖ sind sich darin einig, Tarifverhandlungen von der Kollektivvertrags- auf die Betriebsebene zu verlagern, und damit entmachten sie Wirtschaftskammer und Gewerkschaften zugunsten der großen Player, die – oh Wunder – auf der Finanziersliste von Kurz zu finden sind. So werden ganze Belegschaften die Lohnspirale nach unten in Gang setzen aus Angst um ihren Betrieb.
  • ÖVP und FPÖ sind sich darin einig, die Sozialversicherungsträger zusammenzulegen. Ein Schelm, wer glaubt, dass die Selbstverwaltung dabei stehenbleibt. Kurz muss die milliardenschweren Steuergeschenke irgendwo hernehmen, und dazu muss er ins Sozialsystem greifen (oder bei der Wirtschaftsförderung, aber da wird er sich nicht trauen). Selbstverwaltungskörper würden nur bremsen.
  • FPÖ und Neos betreiben aktiv ein Abschaffen der Arbeiterkammern, und die ÖVP hätte wohl nichts gegen eine Schwächung, solange der Druck der Wirtschaftskammer auszuhalten ist. Damit wäre ein großer Expertisentank zumindest beeinträchtigt.
  • Die SPÖ ohne ihre Ministerien – und ohne die Arbeiterkammer – ist sowieso ohne Expertise. Das war unter Schwarz-Blau I und II auch schon so. Mit dem Exitus der Grünen fehlt auch die Expertise aus der ökosozialen Ecke. Die Neos sind auch nicht gerade ein Thinktank, und Pilz noch weniger. Auch das Parlament hat keine Fachabteilung wie zum Beispiel der US-Kongress. Die Expertise der Gegenseite – Industrie, Finanzinstitutionen – bleibt.

Zurück auf die Straße

Wir dürfen nicht vergessen, dass die österreichische Machtbalance auf sehr dünnen Säulen ruht: auf einer funktionierenden, symmetrischen Institutionenlandschaft, die auf ganz wenigen Einfachgesetzen und noch weniger Verfassungsbestimmungen ruht. So etwas kann schnell bröckeln.

Was heißt das nun für die Interessenvertretung?

  • Institutionelle Interessenvertretung hinter dem Vorhang wird sehr einseitig werden, weil der Zugang fehlen wird. Jene, die den direkten Zugang über Ministerkabinette und Parteispenden haben, werden den Takt schlagen, den die anderen nicht einmal mehr hören. Jene, die sich professionelles Lobbying leisten können, haben die Überholspur. Bei den anderen geht niemand ans Telefon, das war unter Schwarz-Blau I und II auch so.
  • Expertise wird einseitig verteilt sein, weil die unabhängigen Ressourcen fehlen, um mitzuhalten. Wenn die ÖVP dann noch auf Wifo und IHS pfeift, sind qualifizierte warnende Stimmen verstummt – die Universitäten sind zu inkonsistent, um diese Rolle zu übernehmen.
  • Die Medien werden ihre liebe Not haben, ausgewogene Informationen zu bekommen. Das wird diesen Trend noch verstärken und es ermöglichen, ganze Diskurse zu drehen: Wir diskutieren nicht mehr, ob wir Sozialleistungen kürzen müssen, sondern nur mehr, welche. Das erfolgreichste Szenario, um als Medium zu überleben, ist das boulevardeske Kasperl-und-Krokodil-Spiel, das den vergangenen Wahlkampf bestimmt hat.
  • Parlamentarischer Widerstand wird gegen null gehen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens haben ÖVP und FPÖ am Parlament kein Interesse – in der geistigen Ahnenreihe beider Parteien gibt es zwei, die das Parlament schon einmal abgeschafft haben. Die Neos sind zu klein, und die Liste Pilz wird in diesem Stück keine Rolle kriegen. Zweitens werden die Oppositionsparteien teilweise mitmachen (Neos) oder gelähmt sein. Die SPÖ ist ohnehin in einer tiefen Krise und muss Oppositionshandwerk erst lernen. Dass Heinz-Christian Strache für eine Stärkung der direkten Demokratie eintritt, ist wohl weniger die Suche nach mehr Demokratie, sondern eher ein weiteres Einfallstor für Populismus.
  • Andreas Khol mit seinem "Speed kills" könnte wiederauferstehen. Die wesentlichen Projekte könnten durch sein, bevor die Wirkungen überhaupt einer breiten Mehrheit bewusst sind. In Summe könnte es sein, dass alle unsere formellen und informellen demokratischen Institutionen auf Jahre hinaus gestört sind.
  • Widerstand wird sich in das Internet verlagern, auf Organisationen wie Avaaz und #Aufstehn. Aber es wird nicht reichen, denn Internet-Widerstand ist episodisch, unverbindlich, angreifbar und korrumpierbar. Ein Shitstorm ist nicht genug: Um etwas zu verändern, muss sich Internet-Widerstand in lagerübergreifend sichtbaren, konkreten Widerstand zu wandeln, und wie das gehen soll, ist noch sehr unklar.

Das ist eine Chance für die etablierten zivilgesellschaften Interessenvertretungen: Greenpeace, Global 2000, Attac und die Armutskonferenz und viele mehr haben sowohl Expertise in ihrem Feld als auch einen Organisationsapparat, um Empörung in wirksames Handeln zu verwandeln. Diese Organisationen betreiben allerdings Sachpolitik. Es stellt sich die Frage, wer sich dafür einsetzen wird, dass wir noch eine Demokratie haben.

Echte Bewegungen

Für die Opposition – SPÖ und auch die aus dem Parlament geflogenen Grünen – wird es eine Überlebensfrage werden, sich mit Widerstand im Internet und auf der Straße anzufreunden, und zwar buchstäblich: Es geht darum, Nähe und Gemeinsamkeit zu Communitys suchen, ohne zu vereinnahmen. Es ist wohl ihre einzige Chance, die fünfjährige Eiszeit zu nützen. Alle reden davon, eine "Bewegung" zu sein: Die beiden müssen jetzt wirklich Bewegungen werden.

Der Dominikaner Jean-Baptiste Henri Lacordaire schrieb einst: "Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." Die Freiheit der Starken werden wir in den nächsten fünf Jahren erleben. Sie hat das Zeug, Österreich irreversibel zu verändern. (Claus Faber, 23.10.2017)