Wien – Als die psychiatrische Sachverständige Sigrun Roßmanith dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Andreas Böhm das Verhältnis zwischen Vijay S. und seiner Mutter beschreibt, spricht sie unter anderem von einer "destruktiven Symbiose" und einem möglichen "belastungsreaktiven Durchbruch". Was sie damit meint: Die 80-Jährige könnte ihrem 53 Jahre alten Sohn über die Jahre so auf die Nerven gegangen sein, dass er sie am 23. Februar aus Zorn erdrosselte.

Vorsitzenden Böhm interessiert im Mordprozess gegen den Unbescholtenen daher zunächst die Vorgeschichte. Vor 33 Jahren kam S. aus Indien nach Österreich, arbeitete, baute sich hier eine Existenz auf, erwarb die Staatsbürgerschaft. 1991 heiratete er in seiner ursprünglichen Heimat, drei Jahre später kam die Frau mit dem kleinen Sohn nach, 2005 kam noch eine Tochter zur Welt.

"Wir haben auch Hilfe gebraucht für die Tochter und damit meine Frau wieder arbeiten gehen kann", nennt der Angeklagte zwei der Gründe, warum er 2005 auch seine Mutter aus Indien holte und die in die Familienwohnung zog. Ein weiterer: "Sie war ganz alleine dort."

Drei Generationen in Wohnung

Der Familienverband fügte sich allerdings nicht so harmonisch zusammen wie erhofft. Im Gegenteil: Der Enkel des Opfers, ein Student, schildert als Zeuge, dass seine Großmutter in Indien auf dem Land aufgewachsen sei und es ihr daher "sehr, sehr schwergefallen" sei, sich zu integrieren. Mit der Schwiegertochter habe sie sich nicht gut verstanden, gegenüber dem Angeklagten habe sie immer wieder genörgelt. "Ein Beispiel: In Indien ist es üblich, dass der Sohn der Mutter ein Haus baut. Das ist hier natürlich nicht möglich, aber sie hat sich immer wieder darüber beschwert", schildert der Zeuge.

Der Angeklagte bemüht sich dagegen, nichts über seine "Mama", wie er sie konsequent nennt, kommen zu lassen. "Es hat nie Probleme gegeben", behauptet er zunächst, erst auf Nachbohren des Richtersenats berichtet er doch von gelegentlichen Streitereien.

Krise in der Ehe und Depressionen

Die Ehe begann zu zerbröckeln, die Stimmung schlug S. auf das Gemüt, ab 2014 war er wegen Depressionen in Behandlung. Für Sachverständige Roßmanith ein möglicher Grund, warum der an sich friedfertige Angeklagte laut Angehörigen gelegentlich bei einem Streit von einer Sekunde auf die andere explodierte oder sogar Todesdrohungen ausstieß. "Es war eine hochgradig spannungsgeladene Beziehung. Bei Männern äußern sich Depressionen immer wieder auch in Aggressionsausbrüchen."

Im August 2016 kommt es schließlich zur einvernehmlichen Scheidung, zunächst wohnen alle weiter unter einem Dach, was für weitere Konflikte sorgt, unter denen vor allem die Tochter leidet. Die Ex-Frau verlangt den Auszug des Angeklagten und seiner Mutter, er findet dann eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Wien-Donaustadt.

Er richtet sie notdürftig ein, am Tattag nimmt S. seine Mutter erstmals mit. Bei der Polizei und dem Haftrichter hat er im Vorfeld immer recht stringent geschildert, was dort passiert sei: Sie habe wieder herumgenörgelt, ihm sei der Kragen geplatzt, und er habe sie mit ihrem Halstuch stranguliert, ehe er sich selbst mit einem Küchenmesser töten wollte.

Angebliche Messerattacke des Opfers

Nun erzählt der von Michael Jobst verteidigte Angeklagte plötzlich eine völlig andere Version. "Sie hat sich beschwert, dass es keinen Fernseher gibt. Ich habe ihr dann die neue Küche gezeigt, dass wir sogar einen Geschirrspüler haben!", hört das Gericht. "Ich habe ihr auch die ganzen neuen Messer gezeigt, sie hat sich weggedreht." Nach seiner Darstellung muss sie eines der Schneidwerkzeuge genommen haben – denn plötzlich habe sich die 30 Zentimeter kleinere 80-Jährige in seine Richtung gedreht und ihn in den Bauch gestochen.

"Geh weg! Fass mich nicht an!", habe er gesagt, schildert S., seine Mutter habe "auf indische Art zu jammern begonnen". Zunächst wusch er das Messer noch ab. "Warum?", wundert sich Beisitzer Norbert Gerstberger. "Wenn ich blute, wasche ich nicht zuerst ab!" – "Ich wollte meine Mutter schützen, falls die Polizei kommt", lautet die Antwort. Danach habe er sich selbst auf dem WC verarztet, erinnert sich der Angeklagte, als er zurückkam, saß seine Mutter ruhig und regungslos auf dem Sofa.

Er habe Angst um sie bekommen. "In dem Moment habe ich meinen Verstand verloren. Ich habe sie von hinten an ihrem Halstuch genommen und gerüttelt, aber ich wollte nicht, dass sie stirbt", behauptet S. schluchzend. Plötzlich sei ihre Zahnprothese herausgefallen, da habe er realisiert, was er angerichtet habe.

Minutenlang Luft abgeschnürt

Der Gerichtsmediziner kann mit dieser Geschichte wenig anfangen. Die Stichkanäle der Wunden am Oberkörper des Angeklagten stimmen nicht mit dessen Darstellung überein, die Greisin müsse auch zwischen zwei und fünf Minuten mit massiver Gewalt gedrosselt worden sein, führt Daniele Risser aus.

Dagegen spricht auch, dass S. danach seine Ex-Frau anrief und ihr die Tat beichtete, wie die sich erinnert. Sein anschließender Notruf bei der Polizei wurde aufgenommen. Auch dort lautet sein erster Satz: "Ich habe meine Mama umgebracht und bringe mich jetzt um."

Die Geschworenen glauben S. die Geschichte mit dem Messerangriff der Mutter dennoch und gehen davon aus, dass er sie unmittelbar anschließend getötet hat. Das Urteil mit fünf zu drei Stimmen: Totschlag. Dafür erhält der 53-Jährige fünf Jahre Haft, die er akzeptiert, die Staatsanwältin gibt keine Erklärung ab, daher ist die Entscheidung nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 23.10.2017)