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Ob Partei oder Bewegung – die Wähler sind in ihren Wahlverhalten flexibler und mobiler als früher.

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Sylvia Kritzinger ist Professorin für Methoden in den Sozialwissenschaften am Institut für Staatswissenschaft.

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Sind Massenparteien wie SPÖ und ÖVP am Aussterben, und übernehmen Bewegungen das Ruder in Europa? Ist die Demokratie in manchen europäischen Ländern bereits in Gefahr – und welche Rolle spielen die Medien in diesen Entwicklungen? Diese und weitere Fragen hat die Community im Forum zum Thema "Ist die Demokratie tatsächlich im Umbruch?" gestellt. Die Forscherin Sylvia Kritzinger gibt Antworten darauf:

Sylvia Kritzinger: Die Identifikation mit Parteien ist tatsächlich im Sinken begriffen. Dies äußerst sich mitunter in schrumpfenden Mitgliederzahlen, auch wenn Sie zu Recht darauf hinweisen, dass die im europäischen Vergleich doch sehr hohen Mitgliederzahlen in Österreich in der Vergangenheit wohl eher der "Wohltätigkeit" der beiden Großparteien SPÖ und ÖVP zu verdanken waren.

Die geringe Identifikation mit Parteien bringt es dann mit sich, dass Wähler mobiler werden und sich je nach Programm oder Person bei unterschiedlichen Wahlen verschieden positionieren und unterschiedliche Parteien und Bewegungen wählen. Umgekehrt beobachtet man jedoch in den USA ein erneutes Ansteigen von Parteiidentifikationen, was in einer stärkeren Polarisierung der Gesellschaft Ausdruck findet. Es wird sich zeigen, ob diese Umkehrtendenz auch in Europa beobachtet werden kann, also dass Wähler sich wieder ganz stark einer Partei zugehörig fühlen. Die polarisierenden Wahlkämpfe in jüngster Vergangenheit können eventuell dazu beitragen.

Ein Wort noch zur politischen Partizipation: Diese kann auf sehr vielen und unterschiedlichen Ebenen stattfinden. Die Nationalratswahlen haben gezeigt, dass hier sehr viel Potenzial vorhanden ist. Nicht nur, dass die Wahlbeteiligung bedeutend gestiegen ist, auch das gestiegene politische Interesse quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen ist womöglich ein Wegweiser dafür, dass zukünftig politisches Engagement wieder verstärkt in den Vordergrund tritt.

Kritzinger: Den Medien werden sehr häufig starke Effekte zugeschrieben. In der Forschung sind langandauernde Effekte aber sehr schwierig empirisch nachzuweisen. Meistens finden wir nur sehr geringe Medieneffekte. Darüber hinaus verstärken Medien eher die bestehenden Positionen, als dass sie die Karten komplett neu mischen können. So konnten wir für die Nationalratswahl 2013 zeigen, dass Veränderungen in Wahlentscheidungen über den Wahlkampf hinweg weniger von den Medien hervorgerufen wurden, sondern diese vielmehr durch den persönlichen Kontakt mit Politikern stark beeinflusst wurden.

Kritzinger: In einer repräsentativen Demokratie überlassen die Bürger über einen bestimmten Zeitraum – die Legislaturperiode – die Repräsentation ihrer Positionen einer von ihnen bestimmten Gruppe von Delegierten. Diese sollen dann die Positionen ihrer Wählergruppen repräsentieren. Das durchaus auch vor dem Hintergrund, dass sich politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen ergeben, auf die man reagieren muss und soll, die zum Zeitpunkt der Wahl aber noch nicht absehbar waren. Denken Sie dabei an die Wirtschafts- oder Flüchtlingskrise und die notwendigen Reaktionen der Regierungen darauf.

Dann gibt es das Modell der direkten Demokratie, wo die Delegierten der Repräsentationsrolle enthoben werden und die Bürger direkt entscheiden. Jede Form der Demokratie hat ihren Preis, so auch die direkte Demokratie. So müssen von den Bürgern Ressourcen dafür freigemacht werden. Informationen müssen eingeholt werden, komplexe Sachverhalte und ihre zukünftigen Auswirkungen müssen erfasst und bewertet werden. Grundsätzlich ist es schwierig, komplexe Sachverhalte in einfache Ja/Nein-Muster zu pressen, da viele Grauschattierungen dadurch nicht beachtet werden können. Wer hat beispielsweise beim Brexit-Referendum das Faktum in Betracht gezogen, dass alle Handelsverträge neu ausverhandelt werden müssen?

Außerdem stellt sich die Frage, ab wann das Votum, das aus einem Vorgang der direkten Demokratie resultiert, gültig ist: Bestimmen diejenige, die abstimmen? Oder muss zumindest die Mehrheit der Bürger ihre Meinung kundtun, braucht es also ein Quorum für direkte Abstimmungen? Stellt man die direkte Demokratie der repräsentativen Demokratie gegenüber, so muss offen über die jeweiligen Vor- und Nachteile diskutiert werden, wie auch über die prozeduralen Abläufe. Zurzeit bestimmen vor allem die positiven Aspekte den Diskurs. Die Heilsbringung in der direkten Demokratie zu sehen, ist wie auf halbem Wege steckenbleiben, wenn man über Umbrüche in der Demokratie nachdenkt.

Kritzinger: Ich möchte an dieser Stelle kurz an die Wirtschafts- und Finanzkrise in Griechenland erinnern. Experten in Form der sogenannten Troika, die über keine demokratische Legitimierung verfügten, haben Reformen ausgearbeitet, die von der griechischen Regierung umgesetzt werden mussten. Die Volksabstimmung ist – wenig überraschend – negativ ausgefallen. Dennoch wurde das Expertenprogramm umgesetzt. Experten über demokratischen Prozessen also?

Kritzinger: Bewegungen sind keineswegs ideologiefrei. Blair und Schröder waren klare Anhänger der sogenannten Neuen Mitte, die die Sozialdemokratie wirtschaftspolitisch nach rechts eingeschwenkt hat und ihnen so auch zu ihren wahlpolitischen Erfolgen in den späten 90er- und frühen Nullerjahren verholfen hat.

Wähler sind auch nicht ideologiefrei. So beobachten wir nach wie vor, dass sich Wähler bei wirtschaftlichen Positionen auf einer Links-rechts-Achse einordnen lassen – ganz plakativ gesprochen "mehr Staat versus weniger Staat". Was ihre gesellschaftlichen Positionen betrifft, können Wähler anhand der ideologischen Achse von liberal bis konservativ eingeordnet werden. Parteien oder Bewegungen, die klare Positionen auf diesen ideologischen Achsen präsentieren, können gut bei Wählern punkten. (Sylvia Kritzinger, 25.10.2017)