Bini Adamczak
Beziehungsweise Revolution
Suhrkamp 2017
320 Seiten, 18,50 Euro

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Zum Jahrestag der Oktoberrevolution feiern Kommunisten die Ereignisse von 1917.

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Was ist mit der Revolution? Gibt es die noch, oder ist das Projekt abgesagt? Was ist zu beachten, wenn man sich im politischen Engagement nicht von der Idee verabschieden möchte, es könnte auch einmal eine grundsätzliche Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse geben, die zu mehr Freiheit, mehr Gleichheit führt?

Das Fehlen der Brüderlichkeit

Ja, die Sache mit der Brüderlichkeit. Die wurde doch sehr vernachlässigt. Tonnen von Büchern sind geschrieben worden, die sich umfassend mit den Fragen der Freiheit oder der Gleichheit oder von beidem in ihrem Wechselverhältnis beschäftigen. Aber keine über die Brüderlichkeit. Die Brüderlichkeit spielt in linker Theorie keine Rolle.

Es ist fast lustig, aber eigentlich auch naheliegend, dass ausgerechnet eine Feministin jetzt den Anfang macht, um diese Lücke zu schließen. Schließlich hat sich der Feminismus mit Beziehungen und "Beziehungsweisen" ausgiebigst beschäftigt, und das aus logischen Gründen, aber nicht unter der Überschrift "Brüderlichkeit". Und damit eben auch nicht unter der Überschrift der Revolution.

Bini Adamczaks These in ihrem Buch "Beziehungsweise Revolution" ist, dass alle drei Aspekte notwendig sind, um Revolutionen gelingen zu lassen.

Führt Freiheit ohne Gleichheit zu Ausbeutung und Unterdrückung, so führt Freiheit ohne Solidarität zu Individualisierung. Führt Gleichheit ohne Freiheit zu Zwangskollektivierung bzw. Homogenisierung, so führt Gleichheit ohne Solidarität zu Bindungslosigkeit bzw. Autoritarismus.

Während die Revolution von 1917 die Gleichheit ins Zentrum stellte und die von 1968 die Freiheit, gab es noch keine Revolution, die sich programmatisch um "Beziehungsweisen" drehte. Wobei eben auch dieser Aspekt nicht ohne die anderen auskommt.

Das Gleiche lässt sich antizipativ auch für Konstellationen sagen, in denen die Solidarität bestimmend ist: Solidarität ohne Gleichheit führt in den Paternalismus, Solidarität ohne Freiheit in Loyalität und repressive Vergemeinschaftung.

Wobei genau das in der Tat bei manchen Strömungen des Feminismus passiert ist.

Das Für und Wider

Beim Lesen dieses Buches fühlte ich mich "theoretisch zu Hause" wie lange nicht: Endlich sind mal linke und feministische Basics gleichermaßen selbstverständliche Grundlage der Argumentation. Und nicht nur das, auch der Anarchismus, der in Bezug auf "Beziehungsweisen" oft hellsichtiger war als der Marxismus, ist dabei. Selbst für mich war streckenweise das konsequente generische Femininum ("Alle anwesenden Expertinnen waren sogenannte Männer") eine Herausforderung beim Lesen. Und gleichzeitig erfährt man viel Interessantes über die Revolutionen, speziell über die von 1917. Dazu ist das Buch noch streckenweise regelrecht amüsant zu lesen, wenn auch nicht leicht.

Was natürlich nicht heißt, dass ich mit allem einverstanden bin. Wie meistens bei queerfeministischen Autorinnen fehlt mir etwa die Berücksichtigung des Schwangerwerdenkönnens. Wenn Adamczak zum Beispiel schreibt:

Aus dieser revolutionären Perspektive … erscheinen alle Identitäten, die die Geschichte der Herrschaft den jeweils Lebenden vor die Füße geschleudert hat, als Reichtum potenzieller Existenzweisen, den diese sich aneignen können, um die Fragen zu beantworten: Wie wollen wir leben, wer wollen wir werden, durch welche Beziehungen wollen wir existieren?

Dann füge ich an: Die Möglichkeit, schwanger zu werden – was ja eine sehr wesentliche Beziehungsweise ist –, können sich eben nicht alle Menschen aneignen, und bei etwa der Hälfte der Menschheit ist das schon bei ihrer Geburt klar. Die Differenz zwischen möglicherweise Schwangerwerdenkönnenden und Nichtschwangerwerdenkönnenden ist nicht sozial konstruiert, sie ist biologisch, ein realer Unterschied, der sich nicht dekonstruieren lässt, und mit dem Gesellschaften, auch revolutionäre, umgehen müssen.

Aber ohnehin erschien mir das Buch im letzten Kapitel, in dem die "Beziehungsweisen" ausbuchstabiert werden, noch unfertig und etwas ausfransend. Hier wäre nun viel Gelegenheit, auf die umfangreiche theoretische Arbeit gerade zu einer Politik der Beziehungen – etwa im italienischen Differenzfeminismus und bei seinen deutschsprachigen Partnerinnen – zurückzugreifen. Vieles von dem hier Angerissenen ist dort bereits diskutiert und bearbeitet worden. Vielleicht machen wir die nächste Revolution ja zusammen. (Antje Schrupp, 27.10.2017)