Während des Arabischen Frühlings spielten Graffiti in den Straßen von Kairo eine wichtige politische Rolle. Seit 2013 sind sie weitgehend aus dem Stadtbild verschwunden.

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Mona Abaza ist Soziologieprofessorin in Kairo.

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Kairo/Linz – Als Soziologin an der American University in Kairo wurde Mona Abaza zu einer zentralen Theoretikerin des Arabischen Frühlings. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich insbesondere mit Kunst und Kultur in der ägyptischen Gesellschaft. Eine Keynote bei der Tagung "Kunst und Revolution" des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften führte sie vergangene Woche an die Kunstuniversität Linz.

STANDARD: Ende 2010 nahm eine Serie von Protesten des Arabischen Frühlings ihren Anfang. Was ist in Ägypten davon geblieben?

Abaza: Die vergangenen Jahre waren geprägt von Gewalt und Konfrontationen. Die Stadt Kairo zerfällt, es herrscht urbaner Krieg. Die Armee hat sehr viele Mauern gebaut, sodass man sich kaum im Zentrum bewegen konnte. Viele Leute wurden erschossen oder verletzt. Nach dem Massaker von 2013, bei dem fast tausend Menschen gestorben sind, leben wir heute in einer Militärdiktatur. Die Regierungen – nicht nur in Ägypten – benutzen den Krieg gegen den Terror, um Legitimität zu erlangen. In Ägypten hat das Militär gesagt: Entweder wir übernehmen die Macht oder die Islamisten kommen. So haben viele Menschen gesagt: okay, dann besser das Militär. Und es gibt ja tatsächlich ein Problem mit islamistischen Terroristen wie dem IS.

STANDARD: Wie hat sich der Arabische Frühling auf Kunst und Kultur in Ägypten ausgewirkt?

Abaza: Der Tahrir-Platz wurde als Theater gesehen, als Festival, was auch eine wichtige Rolle in der Tradition und der Religion spielt – bei Muslimen wie bei Christen. Die Leute haben etwa mit Exorzismus gespielt, zum Beispiel: den Geist von Hosni Mubarak (ehemaliger Präsident Ägyptens, Anm.) zu exorzieren – das war natürlich als Witz gemeint, wie vieles. Unsere Revolution wurde auch die lachende Revolution genannt.

STANDARD: Welche Rolle haben Fotos und Videos gespielt?

Abaza: Der Arabische Frühling war die meistfotografierte Revolution in der Geschichte der Menschheit. Das Bild vom Tahrir-Platz mit Millionen von Menschen ist zur Ikone geworden. Doch dieses revolutionäre Bild von damals hat sich nun gegen uns gewendet und wurde für die Gegenrevolution verwendet. So hat es seine ursprüngliche Bedeutung verloren. Ähnliches gilt für Graffiti.

STANDARD: Welche Rolle spielen Graffiti heute in Kairo?

Abaza: Zwischen 2011 und 2013 hatten Graffiti eine wichtige politische Rolle. Sie waren wie ein Stimmungsbarometer: Man ging jeden Tag zu den Mauern, um zu lesen, was dort geschrieben stand, um zu verstehen, wie die Politik lief. Doch mit dem Massaker 2013 haben Graffiti diese Funktion verloren – von den Regierungen sind sie kriminalisiert worden, vom Kunstmarkt kommerzialisiert. Graffiti sind in Kairo mit der Revolution gestorben. In einer solchen Atmosphäre wie heute hat man keine Lust mehr, zu schreiben oder zu arbeiten. Es gibt eine Selbstzensur.

STANDARD: Was bedeutet das für die Graffitikünstler des Arabischen Frühlings von Kairo?

Abaza: Die Galerien von Dubai spielen eine wichtige Rolle bei der Kommerzialisierung der Kunst – revolutionäre Kunst wird dort lukrativ verkauft. Das ist wirklich ein Paradox: Dubai wird nun das mögliche Archiv für diese Künstler. Mittlerweile reisen die Graffitikünstler auf der ganzen Welt herum, werden als Stars gefeiert und treten mit ihrem richtigen Namen auf, nicht mehr anonym. Von den Galerien und Museen wird ihre Kunst teilweise wieder in den öffentlichen Raum getragen – in den Straßen von Kairo sind Graffiti aber verboten.

STANDARD: Welche Kunstformen sind heute in Ägypten präsent?

Abaza: Wir haben nun eine neue Generation von Künstlern, die sehr kritisch gegenüber der Armee ist und dem, was da passiert. Künstler wie Intellektuelle haben über die Stadt geforscht und über die Körper in der Stadt. Es gab viele Konfrontationen, wo Offiziere gezielt Menschen geblendet oder ihnen in die Augen geschossen haben. In der Kunst gibt es eine lange Tradition über Augen und darüber, wie Menschen das Augenlicht verlieren – die wird nun häufig aufgegriffen. Es gibt zwei Trends: einerseits das Spiel mit der Tradition, andererseits mit der Popkultur. Künstler wie Huda Lufti und Hani Rached arbeiten mit Secondhand-Objekten, mit Abfall und Recycling – für den ägyptischen Kontext sind das neue Debatten, die für Europäer schon recht bekannt sind. Ihre Ausdrucksformen sind Videos, Collagen und Multimedia – das sind gegenwärtige, internationalisierte Formate. Die Frage ist, was daran neu ist.

STANDARD: Ist diese Pop-Art auf den Straßen Kairos zu sehen?

Abaza: Nein, nur in den Galerien. Die Straßen sind tabu, die Regierung hat Angst, dass sich der Aufstand auf dem Tahrir-Platz wiederholt.

STANDARD: Denken Sie, dass das möglich wäre?

Abaza: Ich denke, die Geschichte wiederholt sich nicht. Es wird keinen zweiten Tahrir-Platz geben. Das war ein kurzer Moment, wo alle mitgespielt haben, und das ist vorbei. Eine Revolution ist sehr erschöpfend, und sehr viele Menschen sind dabei gestorben. Die Leute heute sind müde. Das liegt auch an der schwerwiegenden ökonomischen Krise. Unsere Währung hat fast 80 Prozent an Wert verloren. Die Regierung zurrt den Gürtel für die Armen immer enger. Es gibt zwar Widerstand, doch der wird niedergeschlagen. Ich bin sehr pessimistisch, was die kurzfristige Zukunft angeht – nicht nur für Ägypten, sondern für die gesamte Region. Ich bin optimistisch für die Generation meiner Tochter und die Enkelkinder. Aber für meine Generation existiert kein Optimismus. (Tanja Traxler, 25.10.2017)