Demonstranten in Kiew sehen Petro Poroschenko hinter Gittern. Einen Anlass dazu gibt es bisher nicht – allerdings erschwert das Handeln des ukrainischen Staatschefs den Kampf gegen die Korruption.

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Serhi Horbatjuk hat seine Unterlagen auf dem Rednerpult ausgebreitet. Doch der wichtigste Satz, den er heute sagt, steht nicht in seinen Akten. "Wie kann man bloß vor alledem einfach so die Augen verschließen?", fragt er nach seiner Rede in die Runde. Gesenkte Köpfe, versteinerte Mienen unter den Zuhörern.

Seit 2014 leitet der 44-jährige Jurist Horbatjuk eine Sonderabteilung in der ukrainischen Staatsanwaltschaft, um die Gewalttaten am Maidan und Korruptionsfälle aufzuarbeiten. Es sind schwere Vorwürfe, mit denen er an diesem kalten Morgen Mitte Oktober vor der internen Kommission der Staatsanwälte auftritt: Er erzählt etwa von Druck und Einflussnahme auf seine Ermittler. So sollen brisante Fälle abgezogen oder "aus Beweismangel" eingestellt worden sein. Bei der Leitung der Staatsanwaltschaft ist er mit seiner Kritik, die er zuletzt auch öffentlich gemacht hat, nicht auf offene Ohren gestoßen. Im Gegenteil: Sie hat ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet. Ihm droht die Suspendierung, vor der er sich nun verteidigen muss.

Dabei war Horbatjuk ein Staatsanwalt, der von der Zivilgesellschaft unterstützt wurde. "Wenn Horbatjuk diesen Kampf verliert, dann ist das auch eine Niederlage für den Maidan", sagt der Anwalt Roman Maselko, der Maidan-Aktivisten vertreten hat. Vor einem Jahr wurde Horbatjuk von den proeuropäischen Reformern für den Posten des Generalstaatsanwalts vorgeschlagen.

"Behörde für Einflussnahme"

Mit seinen Vorwürfen ist er indes nicht allein. "Die Generalstaatsanwaltschaft ist eine Behörde für politischen Einfluss und nicht zur Strafverfolgung", urteilt Transparency International in der Ukraine. Präsident Petro Poroschenko ist 2014 mit dem Versprechen angetreten, den gordischen Knoten aus Korruption und käuflicher Justiz zu durchschlagen. Bisher ist jedoch kein hochrangiger Korruptionsfall geahndet worden. Zuletzt haben sich Hinweise gemehrt, dass Poroschenko die Kontrolle über die Justiz sogar ausweitet. 2016 machte er Juri Luzenko, seinen Trauzeugen, zum Chef der Staatsanwaltschaft.

Dabei galten die Justizreformen auch als Bedingungen für die EU-Visumfreiheit und Hilfskredite. Doch die Reformen haben sich oft nur als Schein entpuppt, hinter dessen Fassade die alten Kräfte um Einfluss ringen. Wie bei der Neubesetzung des Obersten Gerichtshofs: Gegen ein Viertel der Kandidaten, die in einem neuen, offenen Verfahren ausgewählt wurden, hat der Öffentliche Integritätsrat, eine zivilgesellschaftliche Initiative, ein Veto eingelegt. Es gebe "Gründe anzunehmen, dass der Wettbewerb manipuliert wurde, um handverlesene Kandidaten zu ernennen", so der Rat.

Poroschenko hat die Kritik zurückgewiesen und von der "besten Zusammensetzung seit der Unabhängigkeit der Ukraine" gesprochen. "Es ist offensichtlich, dass es nie die Intention des Präsidenten war, die Justiz völlig unabhängig zu machen", sagt Mihajlo Schernakow vom Integritätsrat. "Auf jeder Stufe des Auswahlverfahrens (zum Obersten Gericht, Anm.) haben wir Versuche gesehen, loyale Kandidaten zu fördern und unabhängige abzulehnen."

Nur halbe Maßnahmen

Zwar kann Kiew auf Reformen wie das neue Antikorruptionsbüro verweisen, aber die Maßnahmen bleiben oft auf halbem Wege stecken. Ein unabhängiger Gerichtshof, um Korruptionsfälle auf hoher Ebene auch zu ahnden, dessen Gründung zuletzt auch bei Protesten in Kiew gefordert wurde, wird stetig verschleppt.

Zurück zu Horbatjuk: Hinter verschlossenen Türen ist die interne Kommission zu einem Urteil gekommen. Diesmal kommt Horbatjuk mit einer Verwarnung davon. Es ist bereits die zweite innerhalb weniger Wochen.

Seine Suspendierung ist für viele nur noch eine Frage der Zeit. Auf den langen, düsteren Gängen des Justizgebäudes erzählt derweil eine Fotogalerie die angebliche Erfolgsstory der ukrainischen Justiz, von der Annäherung an EU-Normen und den Besuchen zahlreicher Delegationen aus Brüssel. Die ukrainische Justiz im Jahr 2017 erzählt indes eine andere Geschichte. (Simone Brunner aus Kiew, 30.10.2017)