Wolfgang L. Reiter, "Aufbruch und Zerstörung. Zur Geschichte der Naturwissenschaften in Österreich 1850 bis 1950". € 49,90 / 467 Seiten. Lit-Verlag, Wien 2017.

(Am Cover abgebildet: Der Physiker Stefan Meyer 1915 im Magnetzimmer des von ihm ab 1920 geleiteten Instituts für Radiumforschung.)

Die Physik und die Mathematik sind, wie Uni-Rankings der vergangenen Jahre bestätigten, besondere Stärkefelder der heimischen Wissenschaftslandschaft – nicht zuletzt an der Uni Wien, der mit Abstand größten Hochschule des Landes. Diese Erfolge sind auf der einen Seite ein junges Phänomen. Denn spätestens mit dem "Anschluss" 1938 und der Vertreibung vieler exzellenter Forscher begann eine jahrzehntelange Phase der Mittelmäßigkeit, die vielfach erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts langsam überwunden wurde.

Vergessene Forschungen

Auf der anderen Seite knüpfen diese relativ rezenten Leistungen von Markus Arndt bis Anton Zeilinger indirekt an eine kurze Blütezeit der Naturwissenschaften in Wien rund um 1900 an, die in den einflussreichsten Darstellungen der Wiener Moderne – insbesondere in Carl Schorskes Klassiker "Fin-de-siècle Vienna" aus dem Jahr 1980 – bis jetzt fast zur Gänze ausgespart wurden.

Selbst als die britische Wochenzeitschrift "The Economist" in einem Ende 2016 erschienenen Artikel Wien zur Stadt des Jahrhunderts erklärte, da die hier um 1900 entstandenen Ideen den Westen nachhaltig prägten, fehlten einmal mehr die Medizin und Naturwissenschaften. Dabei ist deren erfolgreiche Phase, die von etwa 1850 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs dauerte, mittlerweile recht gut erforscht.

Studien eines "Liebhabers"

Das ist nicht zuletzt einem Wissenschaftshistoriker zu verdanken, der seine Studien als Amateur – also als Liebhaber – betrieb: Wolfgang L. Reiter war in seinem Hauptberuf Beamter im Wissenschaftsministerium und dort leitend für die Naturwissenschaften zuständig. Daneben aber beschäftigte sich der promovierte Physiker seit 30 Jahren aber auch intensiv vor allem mit der Geschichte der Physik in Österreich.

Eine repräsentative Auswahl von Reiters wichtigsten Studien sind nun in einem Sammelband unter dem prägnanten Titel Aufbruch und Zerstörung erschienen. Die ursprünglich unabhängig voneinander verfassten 14 Artikel wurden für den fast 500 Seiten starken Band so arrangiert, dass sie trotz verschiedener Ebenen und Perspektiven – biografisch, prosopografisch und institutionenhistorisch – ein zusammenhängendes Narrativ ergeben.

Von der "heroischen Phase"...

Diese Erzählung beginnt mit der "heroischen Phase" der Naturwissenschaften in Österreich, die nach den Reformen Leo von Thuns 1850 einsetzt und bis zur Blütezeit um 1900 reicht. Beispielhaft für Wiens wissenschaftliche "Welt von gestern" widmet sich Reiter etwa dem Physikgiganten Ludwig Boltzmann oder dem Institut für Radiumforschung, dem weltweit ersten Institut dieser Art, das auch für das Institut von Marie und Pierre Curie in Paris Pate stand.

... zum "Einbruch der Barbarei"

Den zweiten Teil des Titels – die Zerstörung des Aufbruchs – lösen dann Fallstudien zum allmählichen Niedergang der Naturwissenschaften in der Zwischenkriegszeit und zum "Einbruch der Barbarei" ein: Mit dem "Anschluss" im März 1938 wurden allein an der Uni Wien rund 50 Prozent der Chemiker, 36 Prozent der Mathematiker und etwa 33 Prozent der Physiker entlassen, wie Reiter erstmals ermittelte.

Diese Zahlen sind für den Wissenschaftshistoriker zugleich wichtige Hinweise darauf, wie sehr die Aufbrüche in der Physik, der Chemie oder der Biologie um 1900 nicht zuletzt von Forschern und Mäzenen jüdischer Herkunft geprägt waren. Man denke in dem Zusammenhang nur an die 1902 gegründete Biologische Versuchsanstalt im Wiener Prater, der Reiter bereits im Jahr 1999 eine pionierhafte Studie widmete.

Soziologische Erklärungen

Reiter belässt es aber nicht bei bloßen Schilderungen dieses Auf- und späteren Zusammenbruchs sowie des zaghaften Neubeginns nach 1945. Er fragt auch nach den politischen, wirtschaftlichen und soziologischen Gründen, die für diese kurze Blütezeit sorgten. Denn die ist in der Tat erklärungsbedürftig, worauf vor Reiter bereits der Physikochemiker Engelbert Broda hingewiesen hat: Denn eigentlich boten die schlechte industrielle Entwicklung und die Wissenschaftsfeindlichkeit von Kaiser Franz Joseph I. alles andere als gute Voraussetzungen für besondere Forschungsleistungen.

Dass solche Leistungen – jedenfalls in der Wissenschaftsgeschichte – auch heute noch jenseits des akademischen Betriebs und ohne viel finanzielle Unterstützung möglich sind, davon gibt Wolfgang Reiters OEuvre, das nun in einer Best-of-Kompilation vorliegt, eindrucksvoll Zeugnis. (Klaus Taschwer, 6.11.2017)