"Stigma fördert die Exklusion", warnt Asita Sepandj, die ärztliche Leiterin des Geronto Psychiatrischen Zentrums der Psychosozialen Dienste.

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Wien – Eine psychische Erkrankung stigmatisiert und schädigt den Betroffenen, seine Angehörigen und die Gesellschaft mehrfach – das war das Fazit des Wiener "Tags der Seelischen Gesundheit" im Rathaus, der am Dienstag stattgefunden hat. Das Motto lautete: "Wir lassen uns nicht abstempeln".

"Die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen in der öffentlichen Wahrnehmung ist in Österreich nach wie vor ein Problem", betonte Georg Psota, Chefarzt der Psychosozialen Dienste (PSD). Betroffene würden weiterhin ausgegrenzt. Das Gesundheitssystem stelle im Vergleich noch immer weniger Mittel für die Versorgung psychisch Kranker als für Diagnose, Behandlung und Rehabilitation von Menschen mit physischen Leiden zur Verfügung.

Mindestens ein Viertel der Bevölkerung betroffen

Hinzu kommt als besonders schlimme Rahmenbedingung die oft erfolgende Stigmatisierung der psychische Kranken selbst, die von der Gesellschaft als vermeintlich "Andere" abgestempelt und ausgegrenzt werden. "Ein Drittel bis ein Viertel der Menschen haben innerhalb eines Jahres psychische Probleme. Nächstes Jahr ist es ein anderes Drittel oder ein Viertel", so Psota.

Das Fazit des Experten: Menschen mit psychischen Problemen und psychiatrisch Kranke machen immer einen erheblichen Anteil der Bevölkerung aus, was deren Ausgrenzung und Benachteiligung umso absurder macht. Der Psychiater zitierte den Wiener Psychiatrie-Reformer und ehemaligen PSD-Gründer Stephan Rudas: "Psychische Erkrankungen sind häufig und keine Schande." Das "unsichtbare Organ der Psyche" werde aber oft vernachlässigt.

Wie sehr die Angst vor der Stigmatisierung die Menschen mit psychischen Erkrankungen schädigt, belegte Asita Sepandj, die ärztliche Leiterin des Geronto Psychiatrischen Zentrums des PSD, am Beispiel von Alzheimer- und anderen Demenzformen: "Das Stigma verhindert, dass Menschen Symptome als solche erkennen. Ohne Symptome bekommen sie keine Diagnose. Weltweit werden nur zehn bis 50 Prozent Demenzerkrankungen diagnostiziert, in Österreich 50 Prozent. Stigma fördert die Exklusion." Das verhindere eine optimale Versorgung der Patienten und benachteilige sie.

Mehrfachbelastung von psychischen Erkrankten

Wie unangebracht und schädlich für die Gesellschaft die Ausgrenzung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ist, zeigt auch die Arbeitswelt, betonte der Leiter der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie von MedUni Wien, Johannes Wancata. Psychisch gesunde Menschen gaben zu etwa 95 Prozent an, im vorangegangenen Jahr in einem ständigen Beschäftigungsverhältnis gewesen zu sein. Bei den Personen mit psychischen Erkrankungen waren es knapp 80 Prozent.

54 Prozent der psychisch Gesunden erklärten, im vorangegangenen Jahr kein einziges Mal im Krankenstand gewesen zu sein. Bei Personen mit psychischen Erkrankungen traf das ebenfalls auf rund 54 Prozent zu. Auch bei mehrfachen Krankenstandsfällen zeigten sich faktisch keine Unterschiede. Demnach steht ein Großteil der Menschen mit psychischen Erkrankungen im Berufsleben und trägt eine Mehrfachbelastung.

Oft völlig in der öffentlichen Debatte unterschätzt wird die Tatsache, dass psychische Erkrankungen gut behandelbar und mitunter auch heilbar sind. Wancata zitierte dazu OECD-Daten: Von im Jahr 2004 psychisch Schwerkranken waren 2007 rund 28 Prozent weiterhin schwerkrank, etwa 34 Prozent mittelschwer belastet und knapp 38 Prozent gesund. Bei ursprünglich mittelschwer Erkrankten zeigte sich bis zum Jahr 2007 bei knapp elf Prozent eine Verschlechterung in Richtung "schwerkrank", bei 34 Prozent blieb der Zustand stabil. 55 Prozent der Betroffenen galten 2007 als geheilt. (APA, red, 2.11.2017)