Nick Cave waltet in der Wiener Stadthalle seines Amtes.

Foto: Christian Fischer

Wien – Rechtzeitig zu seinem 60. Geburtstag ist Nick Cave im September also ein Comicheld geworden. In der grafischen und biografischen Novelle "Nick Cave – Mercy On Me" erleben wir den australischen Musiker zwischen Fakt und Fiktion. Erzählt wird die teilweise wahre Geschichte von seinen Anfängen als vor allem auch gegen sich selbst wütender Kämpfer gegen den Schlaf in den frühen 1980er-Jahren mit Blixa und Berlin bis zum sensibel singenden international La-le-lu-Mann für Akademiker in den besten Jahren von heute. Der deutsche Comicautor Reinhard Kleist hat in seinem Band Klischees zur Wahrheit verdichtet. Und die Wahrheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters. Nick Cave glaubt an sich. Deshalb schenken auch wir ihm unseren Glauben.

Mehrzweck- und Pfandbecherhalle

In der Wiener Stadthalle muss man sehr fest an seine Religion glauben. Aufgrund der konzeptionellen Anlage als Mehrzweck- und Pfandbecherhalle hilft das entschieden. Immerhin fand dort noch vor wenigen Tagen ein Tennisturnier statt, bevor nächste Woche Queen noch immer ohne Freddie Mercury, dafür aber mit einem Musicalsänger unter dem Motto "Hauptsache nicht daheim bei der Familie sitzen" sowie Howard Carpendale und das Fest der Pferde stattfinden.

"Far from your loving eyes, among the wind I run. I return to this place and close my eyes again. Guard every memory of you in a place where winter never comes."

Nick Cave geht sein Hochamt sensationellerweise mit einem neuen Spoken-Word-Song an. First Journey aus dem Soundtrack zum kommenden Februar anlaufenden Schuld-und-Sühne-Neowesterndrama Wind River mit Jeremy Renner leitet über zu "Anthrocene", einem stillen Gebet, in dem unser Held das erst vor einem Vierteljahrhundert ausgerufene Zeitalter des Anthropozäns beschwört, also jener möglicherweise sehr bald und abrupt endenden Periode, in der der Mensch zum bestimmenden Umweltfaktor geworden ist. Treibhausgas, Klimaerwärmung, Insektensterben, wir werden alle sterben, nein, das ist nicht zynisch gemeint.

Christliche Erlöserfigur

In der darauf folgenden Beschwörung "Jesus Alone" vom aktuellen Album "Skeleton Tree" taucht erstmals die christliche Erlöserfigur auf. Sie wird im weiteren Konzertverlauf vom links kommenden Lord und dem rechts auftauchenden God ergänzt. Wie gesagt, bei Nick Cave bewegen wir uns seit nunmehr mindestens 20 Jahren tief im Klischee. Dagegen vermag auch seine zunehmend Richtung Handwerk mit goldenem Boden abdriftende Begleitband The Bad Seeds mit dem sehr leider auch Geige spielenden musikalischen Direktor Warren Ellis wenig Dringliches auszurichten.

Man spielt Nummern wie "The Ship Song", "Red Right Hand", "The Weeping Song" oder "Mercy Seat" von Scheibbs bis nach Nebraska seit ungefähr zehn aufgrund der Belastung während Gastspielreisen aus den Nähten gegangenen Maßanzügen. Ein richtiges Bandfeeling ist auf Autopilot kaum noch herzustellen. Zähe und überzogen wortlastige neuere Brocken wie "Jubilee Street" oder der interessanterweise wegen seiner lyrischen Kraft allgemein geschätzte und trotzdem musikalisch wie textlich als letztes Tröpferl daherkommende Superzeitlupen-Funk "Higgs Boson Blues", in dem auch Miley Cyrus und Hannah Montana vorkommen, können da nichts retten.

Frontalunterricht historischer Stoffe

Schon vor der Mitte des Konzerts ist dessen Höhepunkt erreicht. Die alten wütenden Rabiatperlen "From Her To Eternity" und "Tupelo" mit ihren mehr als 30 Jahren auf dem Buckel zeugen von einem alten Furor, der heute mit gut und innig gemeinten Trauerballaden wie "Distant Sky" oder "Push The Sky Away" nur schwer konterkariert werden kann.

In einer großen Halle wirken sie so verloren wie möglicherweise Nick Cave selbst. Teilweise wirkt der Mann wie der Hauptdarsteller in einem autobiografischen Musical namens "Mercy On Me" mit sich selbst als Hauptdarsteller. Der Rest steht im Comicbuch. Am Ende, bei den Zugaben während "Stagger Lee", bittet Cave ein paar Handvoll Leute aus dem Publikum auf die Bühne. Sie dürfen dort stehen, sich setzen und wieder aufstehen. Es bleibt trotzdem ein Frontalunterricht historischer Stoffe. Wir wollen alles, bloß keine Veränderung. Super war es, das Konzert. (Christian Schachinger, 2.11.2017)