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Kein Geld, um in der Freizeit mitzuhalten, Ausschluss, Einsamkeit: Armut der Eltern kann sich für Kinder zum Teufelskreis entwickeln.

Foto: Reuters/Kai Pfaffenbach

Wien – "Jede Form der tollen Freizeitgestaltung fällt weg", sagt eine Lehrerin einer Neuen Mittelschule in Wien, die beobachtet, dass viele ihrer Schüler in prekären finanziellen Verhältnissen leben. Die Eltern seien oft alleinerziehend, mit Migrationshintergrund, arbeitslos und/oder Bezieher von Mindestsicherung. "Für die Schüler ist es das Schlimmste, wenn jemand zu ihnen sagt: Gib zu, du kannst dir das nicht leisten", sagt die Pädagogin. "Viele Kinder haben ganz viel Stress damit, ihre Armut zu kaschieren." Auch Väter und Mütter würden sich oft schämen, um Ermäßigungen anzusuchen.

Der Sozialexperte Martin Schenk bestätigt diese Schilderungen. Auf die Beziehungen zu Freunden und Mitschülern, sagt er, wirke sich das Nicht-mitmachen-Können, weil die Eltern nur wenig Einkommen haben, zerstörerisch aus.

Etwa wenn eine Kinderparty steige und als Mitbringsel mindestens ein Lego-Bauset erwartet werde, das unter 18, 19 Euro nicht zu haben ist: "Manche Kinder, die wissen, dass sich die Eltern das nicht leisten können, verschweigen solche Einladungen lieber."

Einsam und bildungsfern

Die Folge: Sie würden gar nicht mehr eingeladen. Das erhöhe ihr Risiko, zu vereinsamen und zum Außenseiter zu werden, was wiederum ihr Risiko erhöhe, die Schule vorzeitig zu verlassen und nur einen niedrigen Bildungsabschluss zu schaffen. Zudem vergrößere es mittelfristig die Wahrscheinlichkeit psychischer Erkrankungen.

Laut der österreichischen Armutskonferenz, einem Netzwerk sozialer Hilfsorganisationen, gibt es für derlei Zusammenhänge wissenschaftliche Belege. Eine 2016 in Großbritannien erstellte Studie unter der Leitung des Soziologen Aaron Reeves habe etwa ergeben, dass in England nach Streichungen bei der Wohnbeihilfe zehn Prozent mehr Menschen aus Niedrigeinkommenshaushalten psychische Probleme hatten als davor.

"Hat nichts mit Askese zu tun"

Sinnlos angesichts der Armutsprobleme von Kindern sei auch der Rat, aus weniger mehr zu machen und sich etwa im Fall der Party bewusst für ein billiges Mitbringsel zu entscheiden, sagt Schenk: "Wir reden hier von unfreiwilliger Armut. Die hat nichts mit der Freiheit zur Askese zu tun", betont er. In einer Kolumne für die Obdachlosenzeitung "Augustin" zitiert der Sozialexperte die deutsche Autorin Undine Zimmer. Sie wuchs in einer Familie auf, die von der deutschen Sozialhilfe Hartz IV lebte, und schrieb darüber ein Buch ("Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz-IV-Familie", Verlag S. Fischer).

Um Trinkpäckchen beneidet

Ihre gesamte Schulzeit über habe sie andere Kinder um ihre von daheim mitgebrachten Trinkpäckchen beneidet, die sich ihre Eltern nicht hätten leisten können, habe Zimmer erzählt. Nun könne man die kleinen Päckchen mit dem zuckrigen Inhalt durchaus auch als verzichtbar bezeichnen. Jedoch, so die Autorin: "Es ist ein Unterschied, wenn man weiß, man könnte etwa kaufen, oder etwas nicht kauft, weil man es nicht kann."

Eine der als armutsgefährdet geltenden Gruppen in Österreich sind Alleinerziehende beziehungsweise deren Kinder. So erzählt Frau S. dem STANDARD von ihrer Zeit nach der Scheidung: "Meine Kinder konnten weder Urlaube noch Schulskikurse besuchen." Ihr Ex-Mann sei arbeitslos gewesen, sie sei nach der Scheidung "mit den Kindern samt sämtlichen Schulden" allein dagesessen. Der Einkaufszettel habe "in dieser Zeit nur die wichtigsten Grundnahrungsmittel beinhalten" dürfen. Sie habe ganztags gearbeitet und für Weihnachtsgeschenke vorübergehend auch an Wochenenden zusätzlich gejobbt.

Wohnprobleme

Doch nicht nur beim Mangel an Konsumartikeln und kindlichen Statussymbolen macht sich Armut der Eltern als Hemmschuh bemerkbar. Angesichts der seit Jahren steigenden Mietpreise wird es vor allem für Familien mit mehreren Kindern, aber nur wenig Einkommen immer schwieriger, leistbare Wohnungen zu finden.

Laut der Armutskonferenz leben sechs Prozent der Bevölkerung in zu dunklen, elf Prozent in feuchten, oft auch schimmligen Wohnungen. Immer öfter landeten Familien mit Kindern, um Obdachlosigkeit zu vermeiden, in prekären Wohnsituationen mit Untermieten ohne schriftliche Verträge, die bar auf die Hand zu bezahlen sind. Im Fall angekündigter Mindestsicherungssenkungen würden derlei Verwerfungen weiter zunehmen.

Auf die Gesundheit der Kinder habe ein Leben zwischen feuchten Mauern verheerende Auswirkungen, sagt Schenk. Oft schon wenige Wochen nach dem Einzug würden bei ihnen Atemwegserkrankungen auftreten. Bei chronischer Belastung würden in vielen Fällen Asthma und Allergien folgen. "Die Kinder aus armen Familien von heute sind die Patienten von morgen", sagt Schenk. (Irene Brickner, Gudrun Springer, 3.11.2017)