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Familienleben heißt auch Verantwortung übernehmen. Wer übernimmt wie viel?

Foto: Getty Images/AleksandarNakic

Der dänische Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Frage

Unser Sohn ist dreieinhalb Jahre alt und ein begeisterter Kletterer. Er ist sehr neugierig und unerschrocken. Aber: Ich mache mir große Sorgen, dass er vom Balkon springen könnte. Natürlich habe ich ihm schon oft gesagt, dass er das nicht machen darf. Seine Antwort darauf: "Mama, mir kann doch nichts passieren. Ich bin Batman, ich kann fliegen." Wann immer ich ihm erkläre, dass er leider nicht Batman ist und nicht fliegen kann, sagt er: "Wenn ich runterfalle, kommt Superman und rettet mich!" Klar, ein Dreijähriger kann das nicht verstehen.

Als Vorsichtsmaßnahme haben wir die Fensterriegel ausgetauscht. Wir können nun alle mit Schlüssel absperren. Jetzt ist es aber nun so, dass mein Ehemann öfters mal vergisst oder zu faul ist, die Fenster bei Kippfunktion auch entsprechend zu sichern. Unser Sohn weiß aber längst, wie er ein Fenster öffnen kann. Mein Mann geht sogar so weit, dass er im Balkonzimmer das Fenster sperrangelweit offen lässt, um zu lüften. Auf dem Balkon stehen aber Stühle, auf die mein Sohn leicht raufklettern kann. Dann ist es nur noch ein Schritt übers Geländer, und das war's.

Unterschiedliche Sichtweisen

Ich rege mich jedes Mal furchtbar auf – in der Hoffnung, meinen Mann endlich zur Einsicht zu bringen. Das Resultat: Er stellt mich als paranoid hin, findet die Diskussion lächerlich, schimpft und wird laut. Ich habe dieses Thema auch schon in entspannter Atmosphäre angesprochen, aber mein Mann ist überzeugt, dass ich übertreibe. Ich hingegen finde, dass mein Mann auch einfach das Balkonzimmer absperren könnte, solange das Fenster offen steht. Leider ist das für ihn keine Option. Er ist sich auch keiner Schuld bewusst.

Ansonsten ist mein Mann sehr auf die Sicherheit der Kinder bedacht. Ich verstehe einfach nicht, wieso er dieses Risiko immer wieder eingeht. Für mich ist es tatsächlich ein unkalkulierbares Risiko, das ich nicht einfach hinnehmen will. Wie kann ich ihm das endlich verständlich machen?

Antwort

Ich verstehe Ihre Angst und Ihren Ärger sehr gut. Dennoch möchte ich Sie darauf hinweisen, dass Sie den gleichen Fehler begehen, den Mütter jeden Tag in jedem Land dieser Welt begehen: Wann immer sich Väter bei der täglichen Sorge um Babys und Kleinkinder einbringen, tendieren Frauen dazu, sie zu beobachten. Sie kritisieren sie, sobald die Männer den Instruktionen nicht folgen. Viele Väter sind nicht mutig genug, um zu sagen: "Hör mir zu! Lass mich meinen eigenen Weg finden – und dann, wenn ich das Gefühl habe, deine Expertise zu brauchen, werde ich danach fragen."

Ihre Fenster-Tür-Geschichte ist diesem Muster sowohl ähnlich als auch unähnlich. Was Sie tun, ist die Fenster ohne weitere Erklärung zu schließen. Wenn ihr Mann also immer wieder vergisst, diese zu schließen, haben Sie zwei Optionen.

Erste Option: Sagen Sie ihm, dass Sie die gesamte Verantwortung Ihretwillen – und auch die damit verbundene Arbeit – zurückhaben wollen. Ganz ohne Kritik. So lange, bis er seinen Anteil zurückfordert und sich wie ein erwachsener Mann verhält – und nicht wie ein unreifer Teenager, der keine Verantwortung übernehmen will.

Denken Sie daran, dass das sein Beitrag zum "Wir" ist. Er ist nicht Ihr "kleiner Helfer". Sie müssen sich von Ihrer Rolle als "Projektmanagerin" verabschieden, um Raum für seine Verantwortung zu schaffen.

Zweite Option: Nehmen Sie Ihre eigene Angst ernst. Räumen Sie ihr eine höhere Priorität ein als dem Bedürfnis, dass auch Ihr Mann seine "Last" tragen muss.

Unausgesprochene Erwartungen

Es kann auch hilfreich sein, sich über die unterschiedlichen Vorstellungen und Erwartungen, die Sicht auf das gemeinsame Familienleben und die Elternrolle auszutauschen. Gehen Sie zurück zum Ausgangspunkt – also von der Schwangerschaft weg bis hin zur Geburt. Versuchen Sie dabei sich an Ihre damaligen Gedanken, Erwartungen und Unterhaltungen zu erinnern. Vielleicht hatten Sie wie Ihr Mann Gedanken und Ideen, die nie ausgesprochen wurden? Vielleicht haben Sie damals Wünsche ausgesprochen, auf die Sie bis jetzt keine Antwort bekommen haben? Was auch immer zwischen Ihnen beiden oder in Ihnen selbst passiert ist, es ist nie zu spät, die Richtung zu ändern, zurück an den Start zu gehen, dorthin, wo jeder die Verantwortung für seinen eigenen Anteil übernimmt.

Sowohl Mütter wie auch Väter bekommen, vereinfacht gesagt, unterschiedliche Signale von der heutigen Gesellschaft. Diese unterscheiden sich sehr von denen meiner Generation. Ich kann mich deutlich daran erinnern, von Frauen gefragt worden zu sein, ob ich im Haushalt "mithelfe" – das war sozusagen der optimale Standard vor 45 Jahren. Das hat sich geändert. Heute, würde ich meinen, ist es wichtig, sich einzubringen und seinen Anteil zur Gemeinschaft beizutragen. (Jesper Juul, 5.11.2017)