Is Your Practice Political? Thomas Hettche geht mit seinem neuen Essayband im folgenden Text auch dieser Frage nach.

Foto: Thomas Andenmatten

Es ist Sommer, das Fenster weit offen, und draußen albern einige der Künstler herum, die, von einer Jury ausgewählt und mit einem monatlichen Salär versehen, hier ein Jahr lang leben. Während ich sie betrachte, überlege ich, dass sicher alle jungen Menschen in den angesagten Vierteln der Großstädte momentan so aussehen, ein wenig kindhaft, ein wenig ungepflegt, Frauen und Männer mit denselben großen Sonnenbrillen und kurzen Haaren, verwaschenen Shirts mit ausgeleierten Ausschnitten und Hosen mit sehr engen Beinen.

Keiner trägt Lederschuhe, und alle drehen sehr dünne Zigaretten aus demselben Tabak ohne Zusätze. Ich wundere mich ein wenig darüber, dass noch so viele junge Leute rauchen, höre durch das offene Fenster ihr sehr freundliches Lachen, das nicht besonders komplizierte Englisch, das sie miteinander sprechen, und vermöchte nicht zu sagen, wer aus welchem Land stammt.

Der Unterschied zu früher, sagt der Direktor, bestehe darin, dass die heutige Künstlergeneration nicht mehr souverän sei. Man arbeite in ständig wechselnden Kollaborationen, die oftmals eher zufällig zustande kommen. Das Wichtigste seien dabei die Netzwerke, die alle Künstler pflegten, viel wichtiger als die alte Vorstellung von Souveränität. Was das konkret bedeute, will ich wissen.

Immer neue Fragestellungen

Der Direktor, der mit dem Rücken zum Fenster sitzt, wird bald in Rente gehen. Als ich selbst vor über zwanzig Jahren hier Stipendiat war, hatte er gerade erst damit begonnen, die Akademie aufzubauen. Seinem leichten französischen Akzent schien mir schon damals eine sozusagen französische Melodie des Denkens zu entsprechen. Künstler, sagt er, gleichen heute mehr wandernden Handwerkern oder Schaustellern, die ihre Künste in immer neuen Institutionen anbieten und zu immer neuen Fragestellungen.

Das sei aber ein völlig anderer Lebensentwurf, entgegne ich. Der Direktor nickt, und sein Gesichtsausdruck lässt keine Bewertung dessen erkennen, was er beschreibt. Die heutigen Künstler hätten nicht einmal die Idee eines Lebensentwurfs, dazu sei ihr Leben zu prekär und provisorisch. Weshalb sie ihre Kunst auch bereitwillig in den Dienst einer Sache stellten. Also wehren sie sich beispielsweise nicht gegen die Zumutungen der Political Correctness? Im Gegenteil. Der Direktor lächelt sanft. Ihm komme es eher so vor, als wären viele Künstler froh um den Rahmen, den politisch korrekte Themen und Positionen ihrer Arbeit setzten.

Freude an der Öffentlichkeit

Vor dem offenen Fenster wird noch immer geredet, geraucht, und auf dem Kies klirren die Schritte von hier nach da. Gestern, bei meiner Ankunft, wurden die Wiesen um das Schloss gerade gemäht, jetzt drückt die Hitze den Frühsommerduft nach frischem Gras herein. Tatsächlich wurde ja vieles von dem, was unsere neue Medienwirklichkeit auszeichnet, die unhierarchischen Debatten, das Ideal des Zugangs für jedermann, die Geschwindigkeit der Themensetzungen, bereits in den Salons des neunzehnten Jahrhunderts erfunden. Vielleicht liegt es daran, dass der Salonliterat wieder so modern ist. Er hat Freude an der Öffentlichkeit und großen Erfolg in ihr, wenn er in der Lage ist, schnell zu reagieren und seine Zielgruppe intelligent zu adressieren.

Natürlich wäre es wünschenswert, unsere digitale Öffentlichkeit erreichte einmal die intellektuelle Kraft der Salons um 1800, als bei Rahel Levin und Henriette Herz die Grenzen der Stände, der Religionen, der Professionen aufgehoben wurden. Und dennoch langweilen mich solche Literaten. Und zwar wegen jenes anderen Typus Schriftsteller, unwillig oder unfähig zum Diskurs, verstockt, langsam und menschenscheu, der kein Netzwerk zu pflegen in der Lage ist, keine Leitartikel verfassen kann und über seine eigene Arbeit nichts Substanzielles zu sagen weiß. Zu allen Zeiten waren das die Autoren, deren Texte Bestand hatten. In der künftigen Literatur wird man wohl nicht einmal mehr begreifen, wie solche Schriftsteller ihre Leser finden konnten.

Die künftige Literatur?

Die künftige Literatur? Der Direktor mustert mich neugierig. Die künftige Literatur?, fragt er noch einmal. Es ist ein Missverständnis zu glauben, Schriftstellerei habe etwas mit der Lust am Diskurs zu tun. Sondern? Ich zögere. Entscheidend ist das Buch, sage ich schließlich. Das Buch?, fragt er spöttisch. Ja, sage ich leise, das Buch. Aber nicht im Sinne jener Packform von Papier, die sich seinerzeit bequem mit dem Pferdewagen auf die Leipziger Buchmesse karren ließ.

Wie alle künstlerischen Formen ermöglicht es ganz bestimmte Inhalte, bestimmte Erfahrungen, bestimmte Erkenntnisse. Seine Abgeschlossenheit und damit unsere eigene Abgeschlossenheit in dem Moment, in dem wir uns einlassen auf das, was es erzählt, bedingen seine genuine künstlerische Erfahrung. Natürlich passt die Welt nicht in einen Roman, aber es gelingt der Literatur, uns das für Momente glauben zu machen.

Das Wunder der Literatur

Es kommt mir so vor, als wäre das Lachen draußen leiser geworden. Sonnenflecken, die eben noch nicht da waren, fallen jetzt schräg durch den Raum, die Schatten von Blättern zittern darin. Der Direktor mustert mich. Ich nicke. Die Aufgabe des Schriftstellers ist nicht die diskursive Vermittlung irgendwelcher Inhalte, sondern die Herstellung eines im Extremfall gänzlich monadischen Textes, den unsere Imagination aber dennoch aufzuschließen vermag. Das ist das Wunder der Literatur.

Ich weiß noch, wie ich dem Direktor damals bei meiner Ankunft von dem Roman erzählte, an dem ich arbeiten wollte. Und wie ich dann tatsächlich den Schreibtisch kaum verließ. Heute veranstaltet die Akademie regelmäßig Konferenzen, lädt Wissenschaftler aller Sparten ein, die Künstler arbeiten mit der Forschungsabteilung des hiesigen Elektrokonzerns zusammen, es gibt Ausstellungen, Konzerte, Lesungen und einen globalen künstlerischen Austausch über eine virtuelle Akademie. Zu meiner Zeit feierte man zusammen, dann ging jeder zurück in sein Atelier.

Lektüre ist Zwiegespräch ohne Rückversicherung nach außen, sie erfordert Konzentration, nur dann belohnt sie uns als Leser, indem sie uns aus all den Netzen löst, in die wir alltäglich verwoben sind. Doch in unserem medialen Alltag verlieren wir zunehmend Muße und Fähigkeit dazu, weshalb einer der wenigen tatsächlich utopischen Räume, den wir uns in dieser Welt geschaffen haben, dabei ist zu verschwinden.

Leer bis auf das Macbook Air

Der Direktor sieht mich stirnrunzelnd an. Zu meiner Zeit gab es in seinem Büro einen Schreibtisch mit einem großen Desktop-Rechner darauf, es gab Papierstapel, Akten, eine Schreibtischlampe und einen Schreibtischstuhl, jetzt füllt ein mit blauem Linoleum beschichteter, quadratischer Holztisch den Raum fast völlig aus, an allen Seiten lehnenlose Bänke, leer bis auf das Macbook Air des Direktors. Ich bemerke, dass es draußen vor dem Fenster still ist. Die Künstler müssen gegangen sein, ohne dass ich es bemerkt hätte. Es scheint mir viel Zeit zu vergehen, bis der Direktor irgendwann das Schweigen bricht.

Er plane, den ökologischen Fußabdruck der Akademie messen zu lassen. Ich verstehe nicht, sage ich. Lächelnd erklärt er, er glaube nicht, dass es zukünftig gesellschaftlich noch vertretbar sein werde, Künstler aus aller Welt einfach einfliegen zu lassen. Für den Moment aber, an dem das ökologische Bewusstsein die Akademie grundsätzlich infrage stelle, wolle er gewappnet sein. Zum Abschied schenkt er mir eine Postkarte, die er zum neuesten Gemeinschaftsprojekt der Stipendiaten hat drucken lassen. Auf grauer Pappe steht nur ein Satz: Is Your Practice Political? (Thomas Hettche, 4.11.2017)