Schriftsteller Gerhard Roth.

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Einem überaus hartnäckigen Klischee zufolge steht die Lagunenstadt Venedig mit den Mächten des Todes und der Finsternis im Einvernehmen. Seine stark exponierte, zugleich einwärts gekehrte Lage bestimmt Venedig gleichsam zum Schauplatz von "Heterotopien" (Michel Foucault). An einem solchen Ort wäre ein kulturelles Handeln zu bestaunen, das von geläufigen Mustern der Sinnstiftung markant abweicht, dessen Praktiken und Riten aber dennoch sinnfällig erscheinen und einen hohen Grad an Verbindlichkeit aufweisen.

Nur so kann es passieren, dass selbst den geübtesten Venedig-Besucher im Schatten des tausendmal gesehenen Campanile komplett widersprüchliche Gefühle anwandeln. Nicht viel anders ergeht es auch Michael Aldrian, der Hauptfigur in Gerhard Roths neuem, fantastischem Roman. Als langjähriger Souffleur der Wiener Staatsoper war er es gewohnt gewesen, die berühmtesten Opern des Weltrepertoires auswendig mitzusprechen und zu singen.

Es hatte eines Hörsturzes bedurft, um den Kauz Aldrian aus seiner merkwürdig doppeldeutigen Lage zu befreien. Die Füße der Gesangsdarsteller im Blick, lebte er gleichwohl vom Überlegenheitsgefühl eines allwissenden Erzählers. Der behält unentwegt im Kopf, was der Sänger vor ihm auf der Bühne in der Sekunde zu vergessen droht.

Ein "anderes" Venedig

Auf der Bühne des Lebens geht es selbst für einen subaltern Bediensteten des Opernbetriebes bescheidener zu. Aldrian reist mit dem Nachtzug nach Venedig. Er möchte seinen dort ansässigen Bruder in tausendmal erprobter Manier besuchen. Dem "Maestro Suggeritore" (Souffleur) a. D. schwebt die Abfassung eines "alternativen" Stadtreiseführers vor. Wiederum soll ein "anderes", heterotopisches Venedig aufgespürt werden: ein Wirrwarr aus Karteien und Archiven, ein Labyrinth aus Bleikammern und Narrentürmen. Es ist, als gäbe es ein geheimes Wissen, das diesem Moloch auf Stelzen erst mühsam, das heißt: wider dessen Willen, entrissen werden müsste.

Es verhält sich in Roths neuem Buch daher wie in der Edgar- Allan-Poe-Erzählung Der entwendete Brief. Das angeblich okkulte Wissen liegt vor der Nase dessen, der es wegen seiner Offensichtlichkeit nicht zu entdecken vermag. Aldrians Reise in die tiefe Nacht des venezianischen Karnevals startet daher auch buchstäblich mit Fehlzündungen. Der Mitreisende im Liegewagen leidet unter infernalischen Blähungen. In der Stadt selbst schwappt ihm das berüchtigte Hochwasser ("Acqua alta") entgegen. Bald schon wird Michael klar, dass sowohl sein Bruder als auch dessen Frau – die Aldrian einst für sich begehrte – spurlos verschwunden sind. Man scheut sich natürlich, in der Stadt der Kanäle vom sprichwörtlichen "Erdboden" zu sprechen, von dem sie verschluckt wären.

Ausnahmezustand

Neben den Wasserstraßen, auf den Plätzen und Brücken tobt der Karneval. Praktisch jeder Passant tritt Aldrian maskiert entgegen und bildet für den Flaneur einen potenziellen Gefahrenherd. Bruder Jakobs Verschwinden gehört zum Ausnahmezustand dieses Karnevals, der mehr meint als den Kinderfasching der Vermummung. Roth weist unübersehbar auf den "Karneval" Michail Bachtins hin, mithin auf das schmale Zeitfenster, innerhalb dessen die Hierarchien stürzen und die sittlichen Normen komplett außer Kraft gesetzt sind.

Der abwesende Jakob bildet zum notorischen Musikversteher Michael den Antipoden. Als Naturmaler und Sammler von Fossilen ist jener der exemplarische Augenmensch. Sein eminentes Geschick reicht weit hinein in die Geschäftsgebarung der venezianischen Unterwelt. Michael geht überraschend früh dazu über, sein Bruderherz verloren zu geben. Noch verwunderlicher erscheint sein Bemühen, dem eigenen Aufenthalt inmitten von Mord und Totschlag einen Anstrich von Normalität zu verleihen.

Denn während sich rund um Aldrian die Gewaltakte häufen, besucht unser alternativer Bildungsreisender ungerührt die Schatzkammern venezianischer Gedächtnisleistung. Er beehrt das "Archivio di Stato di Venezia". Er erkundet die ehemalige Nervenheilanstalt von San Servolo und evoziert die Raumfluchten des Dogenpalastes.

Seit die Gondeln Trauer tragen

Er bedient sich dabei einer Gedächtnisbewegung, die der Umkehr der musikalischen Bewegungsrichtung entspricht. Und immer wieder stolpert dieser Antiheld durch den Fischmarkt. Er ergötzt sich an der obszönen Schönheit von Tintenfischarmen, kann aber genauso gut erschöpft unter einem Deckengemälde sitzen und in der Kirche von San Pantalone sich, angeregt vom Sturz der Engel, jeweils aufwärts in den Himmel oder hinab in die Hölle halluzinieren.

Gerhard Roths Erzählkunst besteht in der ungerührten Ausführung eines Wimmelbildes von bestürzenden Ausmaßen. Die Zutaten des gehobenen Kriminalromans werden von ihm nicht verschmäht. Sie unterscheiden sich bloß nicht im Geringsten von Symptomen des Wahns oder – horribile dictu – von den Effekten der Bewusstseinsindustrie.

Nicht erst seit die Gondeln Trauer trugen, mischt sich das Brackwasser in den Kanälen mit der gleitenden Vorstellung eines Unrechts, das tief im Inneren Venedigs verborgen liegen könnte. Die Ursachen hinter diesem "Betrug" der optischen Täuschungen aufzuspüren, dieses völlig groteske Wagnis unternimmt Gerhard Roth mit dem langen, kalten Atem des gewiegten Erzählers.

Es ist von einem neuen Zyklus die Rede. Nach einem merkwürdigen Showdown im benachbarten Chioggia besteht auch noch genug Handlungsbedarf, um die Lagune mit ihren Mafianiederlassungen erneut aufzusuchen. Aldrian "empfand es als Erleichterung, dass etwas mit der Wirklichkeit nicht stimmte. Sie war nicht so allumfassend, wie sie vorgab, sagte er sich." Und manchmal besteht sie auch bloß aus gefluteten Straßen. (Ronald Pohl, 4.11.2017)